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Dienstag, 10. Dezember 2019

"Bis Jerusalem ist es aber noch weit!"

Etwas Vergleichbares wie heute hatte ich vor vielleicht dreißig Jahren schon einmal erlebt. Damals wohnte ich noch in Gebersheim nahe Leonberg. Es war Weihnachtsabend und da ich allein war, war ich - es dämmerte gerade - in den Wald gegangen, um die Weihnachtsstimmung dort ein wenig aufzunehmen. Auf einem kleinen Waldweg, auf dem einem ansonsten eigentlich nie jemand begegnet, kam mir ein Mann entgegen, und als er kurz vor mir war, sagte er zu meiner Überraschung auf einmal unüberhörbar laut und zu mir gewandt:

„Der Heiland ist heut geboren. Gelobt sei Gott!“

Ich war so verblüfft, dass ich - so habe ich es in Erinnerung - ihm zulachte und spontan zustimmte.


Normalerweise kann ich solche Hallelujah-Onkel und -tanten nicht unbedingt leiden, aber der Mann wollte mir ganz offensichtlich Gutes tun und war irgendwie herzlich und voller Freude, die ich nicht als geheuchelt empfand.
Schnell entschwand er meinen Blicken und ließ mich doch ziemlich verdutzt zurück.


Irgendwo im ziemlich tiefen Wald so ein Weihnachtsgruß . . .


Heute hatte ich gerade den Kurpark Richtung Anstieg zur Therme verlassen. Ich wollte in einem Laden, der in ihrer Nähe lag, einkaufen und hatte gewiss mein Äußeres nicht im Sinn, den Rucksack also und meine Nordic-Stöcke und den Drei-Tage-Bart. 

Just in diesem Moment schien mir die schon etwas tiefer stehende Drei-Uhr-Sonne voll ins Gesicht. Ich war vollkommen geblendet und sah, dass mir jemand entgegenkam, konnte aber auch nicht die Spur eines Details erkennen, als eine Stimme zu mir sagte:
 "Nach Jerusalem ist es aber noch weit!“ - Ich erkannte die Umrisse eines Mannes.
„Bis dahin ist es ein Vollbart.“

Mittlerweile hatte ich erkannt, dass da ein alter Mann mit weißem Haar seinen Rollator durch die Gegend schob und mich halb lächelrnd, halb grinsend ansah.
Ich lachte zurück und sagte:

„Ich bin auch zum inneren Jerusalem unterwegs.“
„Na dann.“ 
Und schon in meinem Rücken hörte ich ihn noch rufen:
„Dann kommen Sie gut an!“

Ich weiß nicht, ob er mein „Danke“ - Pause - „gleichfalls“ noch gehört hat.

Mir ging es wie damals vor dreißig Jahren: Ich ging zwar weiter, aber ging doch immer wieder zu dieser Situation zurück . . .

Es sind auch schon viele Jahre her, dass mir bewusst wurde, dass das sogenannte Böse manchmal ganz harmlose Menschen dazu benutzt, dass sie etwas tun, was sich dann in seiner Wirkung herausstellt als etwas, was die von ihrem Tun Betroffenen gar nicht brauchen können. Da willst Du zu einem wichtigen Termin, der entscheidend für Dein weiteres Leben ist, und ausgerechnet da muss ein Fahrradfahrer so doof und ohne Handzeichen abbiegen, dass Du ihn zwar kaum mit Deinem Auto berührst, aber die Polizei wird trotzdem verständigt und der Termin ist hinüber. Oder Du rutschst auf der Treppe aus, die doch montags sonst nie nass geputzt ist . . .


Gegenkräfte wissen genau, wie und wann sie jemanden benutzen können, um etwas zu arrangieren, was ihrem Vorhaben zupass kommt (es muss ihnen nicht gelingen, aber es gelingt dennoch oft). - Die Menschen, die in ihrem Sinn etwas bewirken, sind in diesem Moment für den Impuls, der eine Situation kippt, empfänglich. - Das geschieht im Übrigen weltgeschichtlich im großen Maßstab genauso. Immer findet sich jemand, der etwas durchführt (ja, ich denke u.a. an die dämonische Besetzung eines Adolf Hitler, die in dem Buch "Stern des Abgrunds" recht detailliert beschrieben wird - Hitler war genau der, der gebraucht wurde - sonst wäre es ein anderer gewesen).


Genauso aber ist es mit Kräften, die Gutes tun wollen. Ob das vor dreißig Jahren damals im Wald und heute der Fall war, weiß ich natürlch nicht definitiv. Aber dass da ein alter Herr auf die Idee kommt, gegenüber einem Wildfremden von Jerusalem zu sprechen, ist für mich erstaunlich. Damals wie heute bewerte ich die Situation nicht. Ich merke nur, dass etwas in mir mehr als nur oberflächlich verwundert ist.



PS  Gerade, da ich den Post abschließe, fällt mir eine dritte Situation ein, die zu diesen beiden passt und die ich an anderer Stelle beschrieben habe. Dort heißt es:

Das Zimmer ist bezogen, wir sind in einer eher kleinen Stadt Apuliens und meine Freunde und ich bummeln durch die Gassen. Wiedermal sind wir auf einer Radtour, der Tag war anstrengend und wir genießen das langsame Spazierengehen. Wir Drei betreten eine Kirche und verlieren uns in ihr, der eine geht zum Altar, der andere zu den Bildern auf der Seite, ich stehe noch etwas unentschlossen, als zwei Mönche auf mich zukommen und einer auf italienisch zu mir sagt: Der Herr ruft dich!
In mir ist plötzlich ein Meer, auf dem viele Hölzer treiben, ich mittendrin, und ich suche das Schiff, das gerade noch da war … ein Bruchteil von Sekunden, ich greife ins Leere … Wie von fern höre ich mich auf Deutsch sagen:“Ich weiß nicht, was Sie meinen“, und sehe mich demonstrativ die Schultern heben …
Ich bin fassungslos, und nach einem kurzen Innehalten drehe ich mich um und eile auf meinen Freund Thomas zu. Nicht, dass ich ihm etwas erzählt hätte, aber ich war innerlich hilflos. Noch später war die Situation für mich vollkommen unerklärlich. Der Tourist war mir auf zwei Kilometer anzusehen gewesen, mein Aussehen – unrasiert und die Hose reichlich zerknittert – sicherlich nicht gerade dieser kleinen Kathedrale würdig. Noch heute empfinde ich diese Zielsicherheit, mit der die beiden Mönche auf mich zukommen. Für sie war offensichtlich, dass ich der Richtige bin, dass sie nur mich ansprechen wollten. – „Der Herr ruft Dich.“ – Welcher Herr ruft mich? Ihr Abt? Oder meinen sie jenen Anderen?  . . .
Nicht, dass ich solche Situationen oft erlebe, nein, eher trifft zu: sehr selten. Aber der ein oder andere wird vergleichbare kennen . . .

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