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Sonntag, 3. Mai 2020

"Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, / daß der Unrast ein Herz schlägt." - Paul Celan, "Corona".


Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der
Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.


Fast scheinen die Worte am Schluss des Gedichtes von Paul Celan, der um diese Jahreszeit vor 50 Jahren in Paris Selbstmord beging, prophetisch zu sein.


Biografisch gesehen mag das Gedicht so betitelt sein, weil es in der Zeit geschrieben wurde, als Celan mit Ingeborg Bachmann liiert war, die im Übrigen Corona sein schönstes Gedicht nannte und in einer Antwort auf Zeilen von ihm, in der er auf ihren Geburtstag Bezug nahm und äußerte, „daß niemand außer Dir dabei sei, wenn ich Mohn, sehr viel Mohn, und Gedächtnis, ebenso viel Gedächtnis, zwei große leuchtende Sträuße auf deinen Geburtstagstisch stelle“, schrieb:
„Ich habe oft nachgedacht, ‚Corona’ ist Dein schönstes Gedicht, es ist die vollkommene Vorwegnahme eines Augenblicks, wo alles Marmor wird und für immer ist. Aber mir hier wird es nicht ‚Zeit’. Ich hungere nach etwas, das ich nicht bekommen werde…“


Ingeborg Bachmann mag Ariadne durch den Kopf, nein, im Herzen gewesen sein, die nach ihrem Tod von Dionysos, der sich in sie verliebt hatte, als Sternbild Corona an den Nachthimmel versetzt worden war; Ariadne aber hat wohl nie aufgehört, Theseus zu lieben, der ihr seine Rettung aus dem Labyrinth verdankte und sie dennoch verließ.
Natürlich spielt mitten in das Gedicht hinein die Beziehung der beiden von Celan und der Bachmann, eine wesentliche, ja DIE wesentliche Rolle, aber den Rahmen bilden Worte, die so überraschend aktuell sind:


Klar kann man mit dem Herbst und damit dem, wofür er steht, dem Wandel, der Vergänglichkeit auf Du und Du sein; man kann sich sogar einbilden, dass er uns aus der Hand frisst; ja, wir können uns sogar einbilden, die Zeit gehn zu lehren. 

Aber Fakt ist: Sie, die Zeit, kehrt in die Schale zurück und was dann folgt, ist doch recht obskur für uns Menschlein: Im Spiegel nur ist Sonntag, nicht im Schlaf wird geträumt, sondern im Traum wird geschlafen und der Mund redet wahr. - Seit wann das?
In Wirklichkeit weiß Celan, womit er eines seiner Gedichte beginnt:

DAS FREMDE
hat uns im Netz,
die Vergänglichkeit greift
ratlos durch uns hindurch
(…)

Wer redet auf unserer Erde zur Zeit wahr?

 
Mir scheinen Celans Zeilen deshalb so bedeutsam, weil mir bewusst wurde, wie sehr alle unsere Gewissheiten über Bord unserer Lebensschiffe gehen. Wer weiß denn wirklich, ob ein Rüdiger Dahlke mit seinen Philippikas gegen die Corona-Maßnahmen oder die nicht enden wollenden Ausführungen eines Axel Burkart zu Corona Recht haben oder nicht doch die zumindest anfänglichen Maßnahmen der Bundesregierung tatsächlich Deutschland vor Ähnlichem bewahrt haben, wie es im Vergleich in den USA, Spanien, Italien und nun auch in Russland schrecklich tod- und leidbringend geschah und geschieht . . .
Wer weiß wirklich, wie lange noch ein Virus das Leben dominieren muss, bis gesichert ist, dass es ein Zurück zu alten Strukturen nicht mehr geben kann?


Wenn wir ehrlich sind, weiß doch wirklich keiner, warum gerade etwas wie geschieht, selbst jene nicht, die - wie ich das auch tue - nicht am äußeren Geschehen hängenbleiben. Wie witzlos ist es darüber zu spekulieren, woher denn der Virus stamme, wo er doch auf jeden Fall gekommen wäre, woher auch immer. Und wir wissen, dass es not-wendig ist, damit sich die seelische Not auf der Erde wende. Wieviel Leid gab es wirklich auf der Erde, auch ohne den Virus, das niemand zur Kenntnis nahm, weil die Leid-Tragenden nun einmal keine Lobby haben, kein Sprachrohr und nach wie vor, wie schon vor 2000 Jahren in ihren Ohren dröhnte: Gebt uns Barrabas frei!


Ob sich das nun ändert?

Die Corona-Krise ist eine Krise unserer so lieb gewordenen Gewissheiten. Und dazu dürfen auch spirituelle Gewissheiten zählen.


Zum Raum wird hier die Zeit, heißt es in Richard Wagners Parzival-Oper.


Erst wenn wir, wenn Menschen aus der Zeit in den Raum vor das Kreuz und damit vor den Gral treten, dann mag wirklich Raum werden für das, was zu geschehen hat.

Unglaublich eigentlich, wieviel Zeit die Menschen hatten - und da mag kaum jemand ausgenommen sein -, um sich mit einem kleinen Virus auseinanderzusetzen.
Zeit, die ansonsten für das Wesentliche unserer Lebens kaum einmal da war.
Für einen Virus bringt die Menschheit diese Zeit auf, wie das niemand für möglich gehalten hätte.

„Ich hungere nach etwas, das ich nicht bekommen werde…“, schrieb Ingeborg Bachmann.
Solange wir uns vorwiegend Dunkles sagen und das Meer in den Blutstrahl des Mondes getaucht sein lassen, wird sich daran nicht viel ändern.


In seinem Gedicht Anabasis spricht Celan in durchaus kryptischem Wortumfeld, wie es zunehmend seine Weise war, Wahrheit dem Unsagbaren abzuringen, von der „herzhelle(n) Zukunft“ und die letzte Zeile der 2. Strophe lautet: „Ins Unbefahrne hinaus“.

Ja, ich glaube, gerade der letzte Satz gibt die Richtung vor: Es geht darum, dass wir als Menschen gemeinsam in eine Richtung fahren, die unbefahren ist, gleichsam, wie in Goethes Märchen, über die Brücke ins Land der Lilie. 

Und da muss niemand eines anderen Lehrmeister sein wollen. Es geht nur entsprechend dem letzten Wort aus Paul Celans eben zitiertem Gedicht, das lautet: „Mitsammen“.
Es geht nur, wenn wir ein Herz haben für unsere Unrast. Für die Unrast dieser Erde, die so sehr der Ruhe bedarf.

Was für ein unfassbar Ruhe bringendes Wort ruhen ist. - Vielleicht müssen wir auch solche Kostbarkeiten wieder entdecken.

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