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Samstag, 4. Juli 2020

Michael Ende: "Der Mensch ist ein Buch."

Michael Ende, Gleichnis

Der Mensch ist ein Buch.
Ein Buch besteht aus Papier und Karton oder Leder,
aus Leim und Fäden und Leinen
und Druckerschwärze oder Tinte.
Das ist sein physischer Leib.
Aber der Stoff ist vergänglich und auswechselbar.
Es kann auch aus Tontafeln sein oder Wachs,
aus Pergament oder Holzbrettchen, dennoch
ist es ein Buch.
Der Stoff bestimmt seine äußere Erscheinung.
Sie ist wichtig, aber sie ist nicht das eigentliche Buch.
Es kann neue Auflagen (verbesserte?)
oder auch eine neue Ausgabe in einem anderen Verlag geben.
Der Materialist untersucht die Beschaffenheit,
er analysiert das Papier, das Pergament, die Druckerschwärze,
er misst die Dicke der Seiten und vergleicht,
er zählt genau die schwarzen Strichlein und Punkte,
ihre Anordnung, ihre Wiederkehr, ihre Häufigkeit,
und er zieht Schlüsse daraus,
aber er leugnet, dass es Zeichen sind,
die man lesen muss, weil sie Worte bedeuten
und für sich selber wesenlos sind.
Das, sagt er, ist schon subjektive Interpretation,
nicht strenge Wissenschaft;
ich halte mich an die Tatsachen.
Aber die Zeichen sind eine Schrift.
Du kannst das Wort „Baum“ in vielerlei Schriften schreiben,
in lateinischer, griechischer, hebräischer oder kyrillischer,
du kannst es in Morsezeichen schreiben oder chinesischen Ideogrammen.
Die äußeren Erscheinungen sind einander unähnlich.
Und doch ist es das gleiche Buch.
Die Schrift ist die Erbmasse.
Die Sprache ist der Ätherleib.
Sie ist das Leben des Buches.
Die Geschichte ist der Astralleib,
sie erzählt von Freuden und Leiden, sie schildert „Personen“.
Das Ich ist die Idee des Ganzen.
Das höhere Selbst ist der Dichter, der hinter allem steht.
Gott ist die ganze Welt, die nötig ist, damit der Dichter ein Buch schreiben kann.

(aus „Der Niemandsgarten. Aus dem Nachlass.“)

Der Gedanke, der Mensch existiere in Art eines Buches auf unterschiedlichen Ebenen, hat Michael Ende immer wieder beschäftigt ebenso wie diese Sicht auf das Leben, dass der Mensch zwei Welten angehöre, die miteinander verflochten sind und zunehmend miteinander in Kontakt treten können; es ist dies ja auch ein Motiv, das die Struktur der „Unendlichen Geschichte“ bestimmt.
All dies zeigt, dass ein Satz, den der Autor am 13. Juni 1994, zu einer Zeit also, als er bereits mit seiner Krankheit konfrontiert war, die sich bald als unheilbar herausstellen sollte, kein Zufall war:
„Könnte man die Existenz Gottes beweisen, dann gäbe es ihn nicht.

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