Seiten

Freitag, 24. März 2023

Warum Höflichkeit so wertvoll sein kann. - Bemerkenswerte Gedanken von Albert Schweitzer und Max Frisch

HÖFLICHKEIT ALS DIKTAT DES HERZENS

Ich hatte das Glück, in meiner Jugend einigen Menschen zu begegnen, die sich, bei aller Achtung der geltenden gesellschaftlichen Formen, ihre Unmittelbarkeit gewahrt haben. Als ich sah, was sie den Menschen damit gaben, bekam ich den Mut, selber zu versuchen, so natürlich und herzlich zu sein, wie ich es empfand. Die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, haben es nicht zugelassen, dass ich mich jemals wieder ganz unter das Gesetz der Zurückhaltung begab. So gut ich kann, suche ich nun, die Herzenshöflichkeit mit der geltenden Höflichkeit zu vereinen. Ob ich es immer richtig mache, weiß ich nicht. Regeln darüber vermag ich ebenso wenig aufzustellen als dafür, wann man sich in der Musik den überlieferten Gesetzen der Harmonie beugen soll und wann man dem Geiste der Musik, der über allen Gesetzen steht, folgen darf. Soviel aber habe ich erfahren dürfen, dass das Hinwegsetzen über die geltenden Regeln, das wirklich durch das Herz diktiert wird und aus Überlegung kommt, von den andern selten für gedankenlose Aufdringlichkeit genommen wird.

(Albert Schweitzer, "Aus meiner Kindheit und Jugendzeit")



HÖFLICHKEIT ALS EINE GABE DER WEISEN

Das Höfliche, oft als leere Fratze verachtet, offenbart sich als eine Gabe der Weisen. Ohne das Höfliche nämlich, das nicht im Gegensatz zum Wahrhaftigen steht, sondern eine liebevolle Form für das Wahrhaftige ist, können wir nicht wahrhaftig sein und zugleich in menschlicher Gesellschaft leben, die hinwiederum allein auf der Wahrhaftigkeit bestehen kann - also auf der Höflichkeit.
Höflichkeit natürlich nicht als eine Summe von Regeln, die man drillt, sondern als eine innere Haltung, eine Bereitschaft, die sich von Fall zu Fall bewähren muß -
Man hat sie nicht ein für allemal.
Wesentlich, scheint mir, geht es darum, daß wir uns vorstellen können, wie sich ein Wort oder eine Handlung, die unseren eigenen Umständen entspringt, für den anderen ausnimmt. Man macht, obschon es vielleicht unserer eigenen Laune entspräche, keinen Witz über Leichen, wenn der andere gerade seine Mutter verloren hat, und das setzt voraus, das man an den anderen denkt. Man bringt Blumen: als äußeren und sichtbaren Beweis, daß man an die anderen gedacht hat, und auch alle weiteren Gebärden zeigen genau, worum es geht. Man hilft dem andern, wenn er den Mantel anzieht. Natürlich sind es meistens bloße Faxen; immerhin erinnern sie uns, worin das Höfliche bestünde, das wirkliche, wenn es einmal nicht als Geste vorkommt, sondern als Tat, als lebendiges Gelingen -
Zum Beispiel:
Man begnügt sich nicht damit, daß man dem andern einfach seine Meinung sagt; man bemüht sich zugleich um ein Maß, damit sie den andern nicht umwirft, sondern ihm hilft; wohl hält man ihm die Wahrheit hin, aber so, daß er hineinschlüpfen kann.  
Warum so viel Erkenntnis, die meistens in der Welt ist, meistens unfruchtbar bleibt: vielleicht weil sie sich selber genügt und selten auch noch die Kraft hat, sich auf den andern zu beziehen -
Die Kraft: die Liebe.
Der Weise, der wirklich Höfliche, ist stets ein Liebender. Er liebt den Menschen, den er erkennen will, damit er ihn rette, und nicht seine Erkenntnis als solche. Man spürt es schon am Ton. Er wendet sich nicht an die Sterne, wenn er spricht, sondern an die Menschen. Man denke an die chinesischen Meister.
(Max Frisch, Tagebuch 1946 - 1949)

Keine Kommentare: