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Sonntag, 19. März 2023

"Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele" - eines der Turmgedichte Friedrich Hölderlins: "Der Frühling".

Die einen haben gemutmaßt, Hölderlin spiele nur den Geisteskranken (u.a. der französische Politiker und Germanist Pierre Bertaux), andere führten seine diagnostizierte Geisteskrankheit auf die Wirrnisse um seine große Liebe und schlussendlich den Tod seiner Diotima Susette Gontard zurück – Rudolf Steiner hatte auf seine Umnachtung eine ganz spezielle Sicht (https://bit.ly/3TvjHQz).

Hier aber zunächst das Gedicht:

Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde,
Die Tage kommen blütenreich und milde,
Der Abend blüht hinzu, und helle Tage gehen
Vom Himmel abwärts, wo die Tag´ entstehen.

Das Jahr erscheint mit seinen Zeiten
Wie eine Pracht, wo Feste sich verbreiten,
Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele,
So sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele.

Unterschrieben ist es
„mit Untertänigkeit
Scardanelli“.

Man kennt diese Unterschrift von einigen seiner im später so genannten Hölderlinturm (s. Bild/Wikip.) verfassten Gedichte, die man kaum diesem großen Dichter zuordnen würde, wenn man sich u.a. seiner großen Hymnen wie „Patmos“ (https://bit.ly/3YTMoaV) oder der „Friedensfreier“ (https://bit.ly/3yMbUEu) erinnert, die oft in freien Rhythmen und gewagtem Satzbau gestaltet sind und den Leser immer wieder dazu zwingen, zu verweilen und zu sinnen.

Hier in seinem Turm, der ihm von dem Tischlerobermeister Ernst Zimmer, einem Verehrer seiner Werke, zur Verfügung gestellt worden war und in dem er etwas mehr als 40 Jahre, mal Spinett spielend, mal Tabak rauchend, mal dichtend verbrachte, schreibt der Mann Verse, in denen schon ein Zeilensprung – in „Der Frühling“ finden sich immerhin zwei – halsbrecherisch anmutet und die unterschiedliche Hebigkeit der jambischen Verse – einer ist vier- und mehrere fünf- und sechshebig – gewagt erscheint.

Aber was für ein Frieden strömt aus diesen Zeilen, in deren Rahmen alles lebt, alles personifiziert ist: 
Die Sonne glänzt, die Gefilde blühen, die Tage gehen abwärts, das Jahr erscheint … Und ist von den Tagen im Plural die Rede, so blüht „Der Abend“. Von dem Wesen des Abends ist da die Rede mit einer großen Selbstverständlichkeit. Das Jahr scheint nur Feste mit sich zu bringen. Und die Zeichen in der Welt scheinen vor allem Wunder zu sein.

Natürlich mag mancher denken, dass da ein debiler Geist am Werk gewesen sei, der es nicht wirklich mehr blickte.

Mir kommt es so vor, als blicke da jemand, der einst die Tiefen der Wirklichkeit so unnachahmlich erfasste, mit kindlichem Blick auf das menschliche Leben, und dieser Blick tut – mir geht es jedenfalls so – so gut angesichts der Tatsache, dass den Menschen in diesen Zeiten alles zum Problem wird.

Vergessen wir diesen Blick nicht!
Ja, üben wir ihn immer wieder.
Fassen wir neue Ziele!

Denn auch so ist das Leben: einfach schön, sich selbst mit Festen feiernd, blühend, glänzend, wundersam …

Es ist wie im Märchen vom „Mädchen ohne Hände“ (https://bit.ly/3FWU0mH):
Es gibt dieses Haus, in dem wir frei sind, frei, zu fühlen und zu denken wie und was wir wollen.
Und diese Freiheit ist keine Flucht vor dem realen Leben.
Denn die andere Seite des Lebens ist so, wie Hölderlin sie anspricht.

Warum sollten wir sie nicht auch leben ….
Gerade in diesen Zeiten …

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