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Samstag, 7. Juni 2008

Wo bleibt die Liebe, Martin Luther?

Äsop lebte im 6. Jhdt., also nicht lange vor Sokrates, der einen ähnlichen Tod erleiden sollte wie Ersterer.
Äsop war ein griechischer Sklave und soll mit seinen Fabeln den Zorn der Mitbewohner von Delphi erregt haben. Er wurde zum Tode verurteilt und von einem Felsen gestürzt. Der erste Übersetzer der Äsopschen Fabeln ins Deutsche hat dies vor ca. 500 Jahren illustriert, wie oben zu sehen.
Im Folgenden eine der schönsten und zugleich tragischen Fabeln von jenem faszinierenden Sklaven:

Als die Tiere noch alle die gleiche Sprache rede­ten, gewann eine Maus einen Frosch lieb. Da­her lud sie ihn zum Mahle und führte ihn in die Vorratskammer eines Reichen. Da gab es Brot, Käse, Honig, Feigen und alle ändern Leckerbis­sen. „Nun iss nach Herzenslust, lieber Frosch", sagte die Maus. Der ließ sich das nicht zweimal sagen und alle beide schwelgten in auserlese­nen Genüssen. Dann sagte der Frosch: „Nun komm auch einmal zu mir, liebe Maus, und mäste dich an meinen Schätzen! Damit du aber bei deiner Reise durchs Wasser keine Angst bekommst, will ich deinen Fuß an meinen anbin­den." Das tat er auch und sprang in den Teich, wobei er die Maus gefesselt mit sich zog. Als diese nun merkte, dass sie ertrinken musste, sprach sie: „Ich werde von dir getötet werden, aber von einem Stärkeren werde ich gerächt werden." So starb sie. Aber wie sie noch auf dem Wasser dahintrieb, flog ein Habicht über den Teich. Der sah die Maus, schoss herab und er­griff sie und zugleich mit ihr den Frosch. Und er verschlang sie beide.

Unabhängig von aller Lehre, die in dieser Fabel stecken mag: Was mich beeindruckt, ist die Liebe der Maus; sie gewann den Frosch richtig lieb und öffnet ihm ihre Schatzkammer; das tut man, wenn man wirklich liebt. Für die Maus ist es gleichsam ihr Innerstes.
Und sie wünscht dem Frosch: Iss nach Herzenslust.
Man spürt es auf Schritt und Tritt, in allen Buchstaben: Mit Herzens-Lust liebt die Maus den Frosch.
Bei allem Schrecklichen, was dann geschieht:
Dass eine Maus so lieben kann, das fand und finde ich wunderschön.
Nun kommt Martin Luther und ein weit verbreitetets Schulbuch für Schüler der 6. Klasse schreibt, was man gewöhnlich schreibt, wenn man auf Luther hinweist: Luther (1483-1546), der Begründer der evangelischen Kirche, lebte in Wittenberg. Um seine Vorstellungen von einem neuen Christen­tum im Volk zu verbreiten, schrieb Luther Lieder, die im Gottesdienst oder zu Hause gesungen werden konnten (z.B. „Vom Himmel hoch, da komm ich her"). Er übersetzte die Bibel ins Deutsche und schrieb eini­ge Fabeln Äsops für die Menschen seiner Zeit um. Dazu gehört auch die Fabel „Vom Frosch und der Maus":

Eine Maus wollte über ein Wasser und konnte nicht und bat einen Frosch um Rat und Hilfe. Der Frosch war hinterlistig und sagte zu der Maus: „Binde deinen Fuß an meinen Fuß. Dann will ich schwimmen und dich hinüberziehen." Als sie aber in das Wasser kamen, tauchte der Frosch unter und wollte die Maus ertränken. Während sich die Maus wehrt und abmüht, fliegt ein Weihe vorbei, schnappt die Maus und zieht den Frosch mit und frisst sie beide. Lehre: Überlege dir, mit wem du dich einlässt. Die Welt ist voller Falschheit und Untreue. Denn wenn ein Freund den anderen übervor­teilen kann, tut er es. Aber mit Treulosigkeit schadet man sich selbst, so wie es dem Frosche geschehen ist.

Was macht Luther?
* Für mich lässt er das Schönste der Äsop-Fabel weg: die Liebe der Maus!
Warum?
Ausgerechnet jemand, der "seine Vorstellungen von einem neuen Christentum im Volk" verbreiten möchte, lässt die Liebe weg. –
Ehrlich gesagt: Das hat mich total irritiert.
* Wenn die Welt voller Falschheit und Untreue ist, müsste sich Luther nicht auch selbst dazu rechnen?
* Meine Klasse war irritiert, dass sie voller Falschheit und Untreue sein sollte.
* Und was ist das für ein entsetzlicher Virus, den Luther in die Seelen der Menschen pflanzt:
> Wenn ein Freund den anderen übervor­teilen kann, tut er es. <
* Irritiert hat mich auch, dass zwar ein lustiges Bild in jenem Schulbuch neben der Fabel zu sehen war, aber nichts darauf hinwies, wie fragwürdig Luthers Fabelversion ist. Wie schnell hat sich solch ein Virus für ein Leben lang in einer Kinderseele verhakt!
Wie heißt es in Goethes Faust: Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust …
Jener Mann, der solch ein gewaltiges Lied wie Ein feste Burg ist unser Gott schreiben konnte, konnte auch so schmählich das Wunder der Liebe verleugnen und der Freundschaft …