Seiten

Freitag, 3. Oktober 2008

Vom Fall der inneren Mauer: Das Wunder der Menschwerdung mitten im Leben.


Es mag zu meiner persönlichen Entwicklung gehören, dass ich empfindsamer und empfindlicher werde gegenüber dem Verhalten und der Einstellung anderer. Zu vielen Menschen bin ich in letzter Zeit begegnet, deren Weltbild in Zement gegossen scheint, die mit ihren Urteilen fertig sind, eingenommen von sich selbst, fast alles besetzt von ihrem Ego, kaum Platz mehr da für Demut und Liebe.
Kaum Raum da, um andere und sich selbst zu verstehen.
Ihr Herz: ein Schlagstock.
Eine Waffe.
Abwehr ohne Ende.
Nur kein Gefühl.
Gefühl irritiert nur.
Statt Verständnis Kritik.
Statt Hilfe Destruktion.
Pharisäer statt Samariter.
Absage an Wunder.
Gefühllosigkeit statt Einfühlen.
Nichts bewegt sich mehr.
Ein Leben ohne Wind.
Bloß kein Sturm, lieber Gesäusel.
Gerade auch im Gespräch.
Sich selbst nichts mehr zu sagen haben.
Ausdruckslosigkeit der Augen.
Angst vor Bewegung.
Personifizierte Belanglosigkeit.
Ihr Tag, ein bewegt wirkender See, in dem die Wasserbewegung festgefroren ist.
Stehende Wellen.
Ihre Nacht: wie ihr Tag.
Keine Empfindung für den Anderen.
Lieber den Nächsten hassen statt sich selbst.
Lieber spenden statt sich ändern.

Niemand ist nur so. Gott sei Dank, dennoch:

Wie müssen Kinder reagieren, die mit ihnen zu tun haben?
Kindern, die noch weich sind, zart, voller Hoffnung auf Wellen und Wind …
… die dann womöglich lernen, dass man als Erwachsener so ist.

Es gibt andere Menschen: Goethe war so einer. Er muss ein HERZ wie ein Ozean gehabt haben, ein Meer voller Gefühle.
Gefühl ist alles, lässt er Gretchen im Faust sagen. Sein Faust hat den Mut, durch Himmel und Hölle zu gehen. Gerade ist er dabei, Selbstmord zu machen, da hört er den Ostergesang aus der nahen Kirche und der Schmerz über ein als sinnlos empfundenes Leben kann aufbrechen:

Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne, mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.
Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben,
Woher die holde Nachricht tönt;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
Sonst stürzte sich der Himmelsliebe Kuss
Auf mich herab in ernster Sabbatstille;
Da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle,
Und ein Gebet war brünstiger Genuss;
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt ich mir eine Welt entstehn.
Dies Lied verkündete der Jugend muntre Spiele,
Der Frühlingsfeier freies Glück;
Erinnrung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle,
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!

Tränen sind nicht gleich Tränen. Krokodilstränen wollen weiter fressen. Doch gibt es Tränen, die machen das schwere Herz leichter, ja leicht; sie sind eine Überlebenskur für eine zarte Seele.
Auch an Stein zeigen sie Wirkung. Doch kann es Leben dauern.

Bei Goethe sind sie Zeichen der Wandlung, der Verjüngung.
Ihr Salz ist das Ferment unseres Lebens.

Schon auf der ersten Seite des Faust finden wir:

Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen
[…]
Ein Schauer fasst mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich;
Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.

Nur wer an Wunder in seinem Leben wirklich glauben kann, kann an das Wunder der eigenen Menschwerdung glauben.
Glaube lässt keine Erstarrung zu.
Glaube und Hoffnung sind Wegweiser zur Liebe.
Davon wusste Paulus zu schreiben.
Wunder der Liebe.
Nur wer sich wundern kann, nimmt am Wunder der Liebe teil.
Ohne Glauben, ohne Glauben an Wunder: keine Liebe.

Meine Hoffnung, dass es mehr Mensch gewordene Menschen gibt, als es den Anschein hat.

Zur Menschwerdung gehört, was Albert Schweitzer in Aus meiner Kindheit und Jugendzeit formuliert:

Die Reife, zu der wir uns zu entwickeln haben, ist die,
dass wir an uns arbei­ten müssen,
immer schlichter,
immer wahrhaftiger,
immer lauterer,
immer fried­fertiger,
immer sanftmütiger,
immer gütiger,
immer mitleidiger
zu werden.

Dann gilt, was er ebenfalls formuliert:

Finden sich Menschen, die sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit auflehnen und als Persönlichkeit lauter und tief genug sind, dass die Ideale ethischen Fortschritts als Kraft von ihnen ausgehen können, so hebt ein Wirken des Geistes an, das vermögend ist, eine neue Gesinnung in der Menschheit hervorzubringen.
Aus meinem Leben und Denken.

Ich würde gerne mehr solcher zum Menschen gewordene Menschen finden.
Menschen, die den Mut haben, sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit, der Gefühllosigkeit, der Ignoranz, der Destruktion des Nächsten aufzulehnen;
die um die Kraft von Tränen wissen;
deren Kraft der Erneuerung;
die den Mut haben zu fühlen;
die den Mut haben zu sagen, was sie fühlen;
die leben, weil sie fühlen;
die fühlen, weil sie leben;
die an das Wunder von Jericho glauben: den Fall der Mauer.

Keine Kommentare: