Seiten

Samstag, 6. Juni 2009

Michael Winterhoffs Plädoyer für eine intuitive Erziehung


 
Michael Winterhoffs Buch Tyrannen müssen nicht sein. Warum Erziehung allein nicht reicht liegt bereits in der 4. Auflage vor.

Der Autor, selbst Vater von zwei Kindern und u.a. Facharzt für Kinder- und Jugendpsychatrie, macht drei grundlegende Störungen im Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern aus, die ich an anderer Stelle zitiere.

Seine Analyse könnte ich mit vielen Beispielen aus der Schulpraxis untermauern. Oftmals ist es ziemlich erschütternd zu erleben, dass sich für viele Eltern - und das geschieht ja nicht aus bösem Willen - das Koordinatensystem für Erziehung vollkommen verschoben hat. Leider muss ich auch sagen, dass es sich manche einfach auch zu einfach machen, wenn sie sich glauben machen, dass das Erziehung sei, wenn Kinder abends unfallfrei ins Bett gehen und morgens unfallfrei aufstehen. Ich kenne Beispiele dafür, dass Kinder sich morgens vor dem Aufstehen schon einen Video reinziehen und/oder mehrere Spielkonsolen ihr eigen nennen.

Kein Wunder, dass für sie die Welt zu einer Spielkonsole mutiert und alles so zu funktionieren hat wie ihr Spielgerät. Eltern greifen in diese Realität zunehmend weniger ein und nur dann, wenn die Schulleistung rapide sinkt oder sich Drogenmissbrauch zeigt; doch selbst über den wird noch bisweilen hinweggeschaut. Und wenn der Lehrer Unangenehmes anspricht, wird eben der Lehrer angegriffen; andernfalls müsste man sich ja eingestehen, dass im häuslichen Bereich das ein oder andere im Argen liegen könnte (was ja nicht schlimm wäre, Fehler macht jeder).

Einer der maßgeblichen Verhaltensverluste, die ich auch feststelle, ist, dass Kindern die notwendige Distanz zur Erwachsenenwelt verloren gegangen ist. Bei aller möglichen Partnerschaftlichkeit und Liebe, die die Grundlage jeder Erziehung sein muss: Wertschätzung, Distanz, Höflichkeit und Dankbarkeit sind notwendige Ingredienzen jeder Erziehung, sonst entsteht oft das, was M. Winterhoff analysiert.

Wenn ich hier eine wichtige Passage zitiere, dann möchte ich darauf hinweisen, dass sie natürlich im Zusammenhang gelesen werden sollte, bevor jemand Details sich herauspflückt und zerreißt; ich selbst finde Winterhoffs Darstellung ausgewogen und an der Realität orientiert:

Wenn ich davon spreche, dass sich der Erwachsene gegenüber seinem Kind abgegrenzt verhalten sollte, bedeutet das eine Rückkehr. Eine Rückkehr allerdings nicht zu autoritären, sondern zu intuitiven Erziehungsmethoden. Zu der Zeit, als die von mir beschriebenen Beziehungsstörungen für mich eher eine Randerscheinung bedeuteten, war es dem Großteil der Erwachsenen noch möglich, aus einem Bauchgefühl heraus die Entwicklung ihrer Kinder zu begleiten. Es war seltener notwendig, Erziehungsberatung bereitzustellen oder einen Kinderpsychiater aufzusuchen.

Man sollte den Unterschied zwischen einer intuitiven Begleitung der kindlichen Entwicklung und einer gefährlichen Laissez-faire-Einstellung kennen. Letztere zeugt unter dem Mäntelchen des aufgeklärten und unabhängigen Denkens im Grunde nur von einem Desinteresse am Kind und seinem Verhalten gegenüber dem Rest der Gesellschaft.

Intuitives Vorgehen dagegen bedeutet, dass der in sich ruhende Erwachsene spürt, ob das Verhalten des Kindes eine Reaktion erfordert oder nicht, und falls eine Reaktion erforderlich sein sollte, wie sie auszufallen hat. Der Begriff des Spürens oder auch Fühlens ist dabei ganz wichtig. Denn es geht hier eben nicht um erlernte Schemata, nach denen der Erwachsene in einer bestimmten Situation handelt. Vielmehr wird ein bestimmter Vorgang »aus dem Bauch heraus« richtig beurteilt, es folgt im Nachhinein eine automatische Reaktion.

Dabei ist allerdings auch klar, dass »aus dem Bauch heraus« nicht bedeutet, den Kopf abzuschalten. Auch Bauchreaktionen müssen natürlich das Alter des Kindes und andere Begleitumstände berücksichtigen.

So durchläuft das kleine Kind verschiedene Entwicklungsphasen, die zu Beginn für Erwachsene grundsätzlich interessant sind und erfreut begrüßt werden. Wenn ein Kind beispielsweise zu sprechen beginnt, ist das für Eltern ein besonderer Moment, auf den sie sich lange gefreut haben. Je länger das Kind jedoch diese Fähigkeit besitzt und exzessiv von ihr Gebrauch macht, desto häufiger stellt sich normalerweise bei gewissen Gelegenheiten das Gefühl ein, das Kind müsse gerade jetzt im Moment nicht unbedingt reden, sondern könne sehr wohl für einen Moment ruhig sein.

Eltern, die sich auf ihre Intuition verlassen, würden dementsprechend dem Kind abverlangen, dass es zu bestimmten Zeiten auch mal still zu sein hat. In sich ruhen bedeutet also in diesem Moment, das kindliche Verhalten als solches zu sehen und es nicht auf die Erwachsenenebene zu heben.

Diese Reaktion kann nur aus dem Bauch heraus erfolgen. Denn wer den Fehler begeht, eine derartige Situation über den Kopf zu lösen, wird wahrscheinlich schnell dazu neigen, dem Kind partnerschaftlich erklären zu wollen, warum es denn gerade jetzt im Moment nicht reden solle, und sich dabei in eine fruchtlose Diskussion verstricken. Oder er wird - in der Projektion - gar nicht erst versuchen, dem Kind das Reden zu untersagen, weil er befürchtet, sich das Kind damit zum Gegner zu machen. In diesem Fall wird das Dazwischen-Reden des Kindes auch gerne verniedlicht oder überhöht. Das Kind ist dann »sehr interessiert«, »überaus sprachbegabt« oder »ein ganz aufgewecktes Kerlchen, über das man sich nur freuen könne«. Oder aber der Erwachsene hat bereits ein symbiotisches Verhältnis zum Kind und merkt gar nicht erst, dass es zu einem ungünstigen Zeitpunkt (dazwischen-) spricht.
Zusammen mit John Bradshaws Buch Das Kind in uns, das uns anhand eines Verständnisses für unsere eigene Kindheit und unsere verletzten inneren Kinder lehren kann, was wir nicht wiederholen sollten mit unseren Kindern und worauf wir achten können, ist dieses vorliegende von Michael Winterhoff meines Erachtens nahezu eine Pflichtlektüre für Eltern und Erzieher.

PS: Der in sich ruhende Erwachsene, von dem Winterhoff spricht, ist m.E. verwandt dem liebevollen Erwachsenen aus Chopich/Pauls Buch Aussöhnung mit dem inneren Kind.

Drei grundlegende Beziehungsstörungen im Verhältnis Eltern – Kind, auf der Basis von Michael Winterhoffs Tyrannen müssen nicht sein.

Buchcover mit freundlicher Genehmigung des Verlages: Michael Winterhoff, Tyrannen müssen nicht sein.
© by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Keine Kommentare: