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Samstag, 19. September 2009

Wer gibt einem Mehmet, einem Tim K., einem Georg R. eine Stimme? Erfurt, Winnenden, Ansbach und wir!



30 Schülerinnen und Schüler sitzen im Kreis. Mir war zugetragen worden, dass Mehmet von einigen in der Klasse gemobbt wird.
In solchen Fällen setzen wir uns auf diese Weise zusammen; jeder kann dem anderen in die Augen schauen.
Ich spreche offen an, dass Mehmet (Name geändert) immer wieder Opfer von Hänseleien und Gemeinheiten ist und ich frage ihn, wie es ihm gehe.
Mehmet sagt: Mir geht es gut und ich werde nicht gemobbt.
Dabei verzieht er keine Miene.
Die anderen Jugendlichen sitzen so bewegungslos da, wie Mehmet aussieht.
Ich befürchte schon, dass wir sein Unglück nicht werden lösen können.
In meiner stillen Verzweiflung sage ich, was ich selten tue:
Mehmet, ich glaube Dir kein Wort, und zur Klasse gewandt:

Mehmet spricht nicht, wer spricht für Mehmet?

Schweigen. Minutenlanges Schweigen. - Zögernd meldet sich ein Mädchen, dann kommt eine zweite hinzu, eine dritte; zuerst sind es nur Mädchen, die sich melden.
Und alle sprechen davon, wie es Mehmet geht, wie sie empfinden, wie es ihm gehen muss, was sie wahrnehmen, wie andere Jungen mit Mehmet umgehen.
Manche sprechen ausführlicher, manche sagen nur einen Satz, einen wertvollen Satz. Ein Satz für Mehmet.
Einige in der Klasse schrumpfen merklich. Einer der Jungen widerspricht und sagt, dass Mehmet sich auch blöd benehme und erzählt Beispiele. Aber wir können klären, dass Mehmet natürlich kein Heiliger ist und dass er irgendwie auch in der Klasse über die Runden kommen muss, wenn er mal wieder für einige das Opfer ist.

Ehrlich gesagt, war das ein wunderbares Erlebnis.
Kinder gaben Mehmet eine Stimme.
Mehmet wurde nicht mehr gemobbt.
Auf so friedvolle, liebevolle Weise wurde Gewalt an ihm ein Ende gesetzt.
Weil junge Menschen den Mut hatten, für ihn zu sprechen!

So wie Mehmet waren auch Robert Steinhäuser in Erfurt und Tim K. in Winnenden sprachlos und Georg R. wird es im Ansbacher Gefängnis auch sein. Über Allgemeinplätze hinaus wird er der Polizei keine Informationen geben. Ja, vielleicht sagt er sogar, dass er zu viele Gewaltfilme gesehen habe oder dass ihn Erfurt und Winnenden angeregt hätten.

Aber was sagt das wirklich aus über seine Not? Über die Ursachen seines Elends?

Menschen, die keine Stimmen haben, verschaffen sich eine Stimme - und sie kann mörderisch laut sein.

Nicht, dass ich meinen Kollegen in Ansbach zu nahe treten möchte: Aber als klar war, dass niemand mit Georg R. während der unmittelbar bevorstehenden Studienfahrt das Zimmer teilen möchte, hat da jemand ihm eine Stimme gegeben?

Für ihn war das der Normalzustand, dass er ausgegrenzt ist.
Mancher wird sagen: Er hat sich selbst ausgegrenzt.

Aber wir wissen doch ganz genau: Niemand grenzt sich freiwillig selbst aus! Niemand.

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