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Sonntag, 12. April 2020

Wohl genug ist´s, dass die Menschheit grausend / Marterwege wandelte Jahrtausend, / Zeit nun ist´s, dass sie, befreit von Sorgen, / jetzund feire Auferstehungsmorgen.


 

Wohl genug ist´s, dass die Menschheit grausend
Marterwege wandelte Jahrtausend,
Zeit nun ist´s, dass sie, befreit von Sorgen,
jetzund feire Auferstehungsmorgen.

Zeit ist´s, dass das Nachtgestirn verglühe,
Lerchen schmettern in der Morgenfrühe,
Und der junge Tag mit freudgen Schlägen
Eilt der Sonne und dem Glanz entgegen.

So auch du, mein Sohn: Nicht gilt´s zu liegen,
Mach dich auf, den Weltkreis zu besiegen,
Von des Geistes freudgem Flügelschlagen
Mehr und mehr zum Licht emporgetragen.

Dass im Fluge du nicht mögst ermatten,
magst du kreisen ob der Schönheit Matten;
Niederschwebend von dem Flug nach Osten
Jede Freude, die dir rein ist, kosten.

Dein ist alles, all und jede Wonne,
Wann sie aufgeht, dir als eigne Sonne;
Jeder Tag, vom Licht emporgetragen,
Wann er aufgeht, dir als eignes Tagen.

Dein ist alles, all der Blumen Glühen,
Wann hervor sie aus dir selber blühen;
All die Rosenknospen auf der Erden,
Wann sie Rosen in dir selber werden.

Dein ist alles, all der Lieder Singen,
Wann heraus sie aus dir selber klingen;
jeder Schlag der selgen Philomele,
Wann er hallt aus deiner eignen Seele.

Dein ist alles, was in Tal und Hügeln
Lichtvoll sich in dir kann widerspiegeln;
Dein die Himmel selbst und selbst die Sterne,
Wann du Glanz hast für den Glanz der Ferne.

Bist du adlergleich herausgekommen,
Alles Schöne in dich aufgenommen,
Göttertrank gekostet so im Fluge
Auf dem Sieges- und Erobrungszuge.

Liegt das Vorurteil, das Wahnbefangen
Zu den Füßen dir als kriegsgefangen,
Stehst du fast als wie ein Weltenmeister
In der Hand den Feldherrnstab der Geister.

Auf den Dichter obiger Zeilen hat die Welt nicht gewartet. Erst mit 49 Jahren hielt er sein erstes Buch in Händen, für das er auch noch einen Kredit hatte aufnehmen müssen: es ist Christian Wagner (1835-1918), Kleinbauer aus einem kleinen Ort, zwischen Stuttgart und dem Schwarzwald gelegen, anerkannter Sonderling und zutiefst religiös, der Kirche aber abhold, weil er u.a. mit größter Selbstverständlichkeit um Wiedergeburt wusste, gern umherschweifend und Blumen und Vögeln lauschend und seine Rinder nie an den Metzger verkaufend, weil ihm so viel an der Schonung alles Lebendigen gelegen war; weil er eine ganze Zeitlang so viele Schulden hatte, musste er sich auch noch als Holzfäller und Tagelöhner verdingen.
Gegen Ende seines Lebens verbesserte sich seine Situation deutlich, auch, weil mehr und mehr zeitgenössische Dichter von Rang den Bauern und Dichter aus Warmbronn zu schätzen wussten.
Seine erste Frau starb früh; mit seiner zweiten Frau hatte er vier Kinder.
Als auch sie starb, verarbeitete er ihren Tod mit dem bemerkenswerten Zyklus „Oswald und Klara. Ein Stück Ewigkeitsleben“, aus dem auch obiges Gedicht mit dem Titel Oswalds Gedächtnis stammt.
Wohl noch vor dem 1. Weltkrieg geschrieben, scheinen seine Schlusszeilen gerade heute erst Gültigkeit gewinnen zu wollen, leben wir doch just in einer Zeit, in der sich mehr und mehr Menschen des Feldherrnstabs der Geister, von dem Christian Wagner in der letzten Strophe spricht, zu bedienen lernen, nicht, um jene zu befehligen, sondern um mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Was im Übrigen Auferstehung des Geistes bedeuten mag, lässt uns Christian Wagner in seinem Gedicht Berufung wissen, indem er uns auffordert, die oft zu engen Grenzen unseres Geistes zu überwinden, um jenen Geist zu begreifen, dem wir so gerne gleichen wollen:

Lass hinter dir die Heimat, die dich quält
Und nicht den Geist begreift, der dich beseelt!

Lass hinter dir die Arbeit, die dich bückt,
Und deine Frohne, die dich niederdrückt!

Lass hinter dir das Dorf, drin du geweilt,
Das nichts mir dir als Irdisches geteilt!

Lass hinter dir das alles! rufet stets
Der Geist in mir, und in die Welt mich weht’s.

Bildquelle: https://bit.ly/2RuKFJA

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