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Samstag, 3. April 2021

Von Christian Wagners "Ostersamstag" zum "Nürnbrechter Auferstehungslied": Auferstehen werd auch ich!

Es gibt Leben, die währen einen Ostersamstag lang. Auch um sie weiß das Gedicht Christian Wagners, dieses alle Pflanzen und Tiere liebenden Dichters aus Warmbronn, nahe Leonberg, der dem Nachbarn, wiewohl selbst nicht gerade betucht, Vieh abkaufte, damit es nicht geschlachtet werde.

Kurt Tucholsky hat über ihn geschrieben:

(…) er fühlte die tiefe Zusammengehörigkeit zwischen Tier, Mensch und Pflanze, Stein und Stern. Und er liebte das alles. ... Er war dogmenlos fromm. ... Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß, 'Duliöh!' zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten.
 
Auch sein Gedicht Ostersamstag ist wert, gelesen zu werden, weil es über einen Tag spricht, der noch nach so vielen Jahren dem Seelenzustand der Menschheit 2021 gleicht:


Wie die Frauen
Zions wohl dereinst beim matten Grauen
Jenes Trauertags beisammen standen,
Nicht mehr Worte, nur noch Tränen fanden,

So noch heute
Stehen, als in ferne Zeit verstreute
Bleiche Zionstöchter, Anemonen
In des Nordens winterlichen Zonen.

Vom Gewimmel
Dichter Flocken ist ganz trüb der Himmel.
Traurig stehen sie, die Köpfchen hängend,
Und in Gruppen sich zusammendrängend.

Also einsam,
Zehn und zwölfe hier so leidgemeinsam,
Da und dort verstreut auf grauer Öde,
Weiße Tüchlein aufgebunden jede.

Also trauernd,
Innerlich vor Frost zusammenschauernd,
Stehn alljährlich sie als Klagebildnis
In des winterlichen Waldes Wildnis.

Warum ziehen diese Zeilen sicherlich nicht wenige Menschen sogleich und so sehr in ihren Bann?
Wir wissen, dass in Mythen und Gedichten Frauen und das Weibliche für die Seelen der Menschen stehen und diese, auch unsere Seelen, darum wissen, dass es Situationen gibt und Zeiten, in denen uns Worte fehlen und nur noch Tränen sprechen.

Wir alle sind diese Töchter Zions.

Aber die Verse ziehen auch in ihren Bann, weil da einer schreibt, der ein Meister seines Faches ist und so sehr darunter zu leiden hatte, dass über viele Jahre er kaum jemanden fand, der das erkannte (wenn ich mich recht entsinne: seine erste Gedicht-Sammlung veröffentlichte er mit 50 Jahren und finanzierte sie selbst). Und wäre nicht Hermann Hesse gewesen, der sich rührend darum kümmerte, dass er für seine Gedichte einen Verleger fände - die Briefe, die sie sich schrieben, sind überliefert und zeugen von großer gegenseitiger Hochachtung -, wer weiß, vielleicht wüssten heute noch weniger Leute von ihm, als es eh der Fall ist.

In einem Brief vom 19. September 1911 schrieb Christian Wagner an den schon berühmten Dichterkollegen:

„(…) daß ein Bauer sich anmaßt Sonette zu schreiben, in Hexametern zu dichten, - das grenzt an Gotteslästerung. - Was raten Sie mir“?

In des winterlichen Waldes Wildnis

Seine Meisterschaft zeigt sich von Beginn an:

„Wie die Frauen“: die erste Zeile im zweihebigen Trochäus gefasst, und die wenigsten werden wohl das Wort erwarten, das - durch den Zeilensprung noch leise vorenthalten - dann folgt, auch nicht erwarten, wie es rhythmisch weitergeht mit Zeilen im fünfhebigen Trochäus, nicht von jenen Töchtern Zions berichtend, die aufjauchzen und sich freuen, wie wir sie aus dem Adventslied kennen, nein, es sind jene, die Anemonen gleichen, im Schneetreiben stehend, über sich den trüben Himmel.

Manchmal fühlen Menschen mehr mit, wenn sie den Anderen als Blume wahrnehmen.

Womöglich fühlen sie dann in solcher Gestalt auch tiefer sich selbst.
Christian Wagner wusste darum.
Ein Grund, warum so eindrucksvoll immer wieder Blumen im Mittelpunkt seiner Gedichte stehen.

Die ersten Verse jeder Strophe lesen sich, hintereinandergereiht, wie eine inhaltliche Zusammenfassung, und es gibt den Ostersamstag und seine Atmosphäre wieder, dass wir als letzten Auftakt finden: „Also trauernd“.

Da ist etwas gestorben, eine Zeit ist zu Ende gegangen, und die Töchter Zions wissen nicht, was auf sie zukommt.
Und es ist jemand gestorben, um den sie trauern.

Auch den Menschen dieser Tage geht es so.


Von Christus spricht kaum jemand.

Das Gedicht endet mit eindrucksvollen Alliterationen.
Unser Seelenwald muss keineswegs eine Wildnis sein. Hier aber ist es so.
Es ist winterlich, obwohl doch Ostern meist den Frühling ankündigt.

Des von mir so verehrten Bauerndichters Verse berühren, weil sie mehr, als wir es vielleicht wahrhaben wollen, dieser unserer Zeit entsprechen.
Die Welt scheint mitten im Winter, viele Menschen gleichen bleichen Zionstöchtern. Ein Virus hat sie im Griff.
Von Christus spricht kaum jemand.

Ein innerer Ostersonntag scheint weiter weg denn je und ja, es wäre gut, wenn die Töchter Zions weniger Worte fänden; dann würden sie vielleicht nicht ständig nur über das eine Thema reden, nur über Impfen und Lockdown und eine große Müdigkeit, die die Seelen der Menschen erfasst.

Manchmal ist Schweigen notwendig, damit die Seele neue Worte finden kann, bisher nie gesagte Worte.
Über Nacht, in der Nacht von Ostersamstag auf Ostersonntag kann so viel geschehen. Vor allem, wenn wir schweigen.
Was dann möglich ist?


Auferstehen werd auch ich!

Ich sehe den 10-jährigen Johannes in der Kirche sitzen, die die 17 Jahre seiner Frankfurter Kindheitszeit begleitet. Zunächst war sie eine Baracke, die Ersatz dafür war, was der Krieg zerbombt hatte.

Doch die Kindergottesdienste vergisst er nie, wenn der Pfarrer Gottwald, immer als Belohnung, wenn wir seinen Bibelworten brav zugehört hatten, zum Abschluss seine Abenteuer-Fortsetzungsgeschichten erzählte. Auf dem provisorischen Altarpodest sehe ich ihn vor mir; ich glaube, er war selbst ganz gebannt davon, wie er erzählen konnte.

Dann wurde erfolgreich für den Wiederaufbau gesammelt, auch für die neue Orgel.

Noch heute sehe ich mich auf der Längsseite der Empore sitzen, als ich zum ersten Mal in der neuen Kirche den Ostersonntag-Gottesdienst erlebte, die neue Orgel fest im Blick.

Zum Abschluss spielte der Organist, zugleich Leiter des Posaunenchores, in dem ich später dann mitspielte und der mir schon deshalb unvergessen ist, weil ich einmal seinem Vater, der neben mir Waldhorn spielte, den Gummipfropfen des Notenständerfußes, der sich unglücklicherweise von jenem gelöst hatte und so einfach auf dem Boden lag, in den Schalltrichter seines Waldhorns beförderte, so dass er minutenlang zu seinem Entsetzen keinen Ton mehr herausbrachte und ich dann auch nicht, weil die Situation immer dramatischer wurde …

Zum Abschluss jedenfalls spielte der Organist ein Lied, das ich noch heute höre.

Es ist als Nürnbrechter Auferstehungslied bekannt, wahrscheinlich von dem damaligen Pfarrer Ernst Hermann Thümmel ins oberbergische Nümbrecht gebracht.

Seine erste Strophe lautet:

Auferstanden,
auferstanden ist der Herr,
und im ewgen Lichtgewande der Verklärung wandelt er
Und im ewgen Lichtgewande der Verklärung wandelt er.


Die folgenden Strophen waren für mich, seitdem ich sie recht schnell auswendig kannte - und sind es bis heute - immer so eindrücklich, weil sie so bildmächtig waren und sind:

 

Hocherhaben, 

über Sternen glänzt sein Thron, 

freundlich spendet er uns Gaben, ist der Seinen Schild und Lohn. 

Freundlich spendet er uns Gaben ist der Seinen Schild und Lohn!


Keiner bebe! 

Der Erhöhte ruft uns zu:

ich war tot und sieh ich lebe; leben, leben sollst auch du.

Ich war tot und sieh ich lebe; leben, leben sollst auch du.


O ihr Gräber, 

nein vor euch erbeb ich nicht,

weil des edlen Lebens Geber euch erhellt mit seinem Licht.

Weil des edlen Lebens Geber euch erhellt mit seinem Licht.



Ich weiß noch, dass ich an jenem Sonntag in kurzen Hosen auf dieser Empore saß, mit Kniestrümpfen und Sandalen an den Füßen.

Und dass ich nicht zum Mitsingen kam, weil ich die Töne der Orgel in mich aufsog.

Diese neue Orgel - ich meine, das alte Harmonium, immer von Pfarrer Gottwald selbst gespielt, konnte da nicht mehr mithalten: was sie für Töne hervorbrachte … ich war einfach hin und weg.

Die Pause zwischen der vierten und fünften, der abschließenden Strophe dauerte ein paar Sekunden länger, denn der Organist zog, was ich so sah, in möglichster Blitzesschnelle an verschiedenen Hebeln.

Dann kam es wie ein Brausen vom Himmel.
Eine Orgel kann wirklich brausen.

Die Töne durchfluteten jeden Stuhl und jeden Stein des neuen Kirchengebäudes und ja - heute würde ich denken, die Orgel war für diese Kirche etwas überdimensioniert: die Mauern bebten wirklich. Ich bekam fast ein wenig Angst.

Ich vergesse dieses Brausen, dieses Fluten der Töne und dieses Beben nie und auch deshalb tönt noch heute diese letzte Strophe immer wieder in mir:


Auferstehen,

auferstehen werd auch ich 

und den Auferstandnen sehen, wenn er kommt und wecket mich.

Und den Auferstandnen sehen, wenn er kommt und wecket mich.

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