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Mittwoch, 23. November 2011

Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir!

In der letzten Woche habe ich in Ethik mit Schülern meines Kurses über Alleinsein und Einsamsein gesprochen.
Über die Tatsache, dass es Menschen gibt, die kontaktarm sind und aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Anschluss finden; auch darüber, dass es Phasen im Leben gibt, in denen sich viel verändert, auch der Bekannten- und Freundeskreis und man eine Phase durchstehen muss, in der man eher allein ist.
Und dass es wertvoll sein kann, allein zu sein.
Aber eben auch schwierig, deutlich in dem Gedichtanfang von Rainer Maria Rilke: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens ...
Ich finde das einfach nach wie vor beeindruckend, wie Rilke eine Landschaft als Seelenlandschaft verwendet, um einen seelischen Zustand zu übermitteln.

Bevor wir uns in dieser Woche Camus` Mythos vom Sisyphos gewidmet haben - dieser tragische Held ist ja verurteilt, ganz alleine Tag für Tag und Nacht für Nacht seinen Stein auf den Berg zu wuchten, von dem er mit größter Gewissheit wieder nach unten rollt -, sprachen wir darüber, dass es auch ein Alleinsein, eine Einsamkeit gibt, die eine Stufe in der Entwicklung eines Menschen sein kann. In diesem Zusammenhang haben wir einen Bibelauszug aus dem Matthäusevanglium gelesen, in dem berichtet wird, wie es Jesus im Garten Gethsemane erging.
Den Tod vor Augen bat er seine drei Jünger, die ihn begleiteten - es waren Petrus, Johannes und Jakobus -, mit ihm zu wachen. Doch dreimal schliefen sie ein.
Schwach, denkt man. Nicht einmal in dieser Nacht, in der es ihrem geliebten Freund und Meister so schlecht geht, bringen sie es fertig, wach zu bleiben.
Was mir aber bewusst wurde:

Sie hatten, glaube ich, keine Chance, wach zu bleiben.
Die Macht des Bösen ist so stark, dass es jeden Menschen auf dieser Erde förmlich zwingt, einzuschlafen.
Es sei denn, er wäre den Weg Jesu schon gegangen und hätte sein Kreuz nach Golgatha getragen. Dann hätte er sein Ego gekreuzigt.

Solange wir Menschen Ego-Anteile haben, von Machtdenken, Neid, Eifersucht, Häme, Selbstmitleid und anderem beeinflusst sind, haben wir Einfallstore für dunkle Kräfte. Kräfte, die sich unter anderem aus dem kollektiven Unbewussten der Menschheit speisen und unglaublich stark sind.
Man muss dieses Einschlafen nicht werten. Es ist nicht schlimm. Es ist.
Die Jünger wären gerne NICHT eingeschlafen. Es waren keine Schwachmathiker; sie waren auf dem Weg zur Liebe.
Ich bezweifle jedoch, dass sie wirklich eine Wahl hatten.
Vielleicht hätten wir eine, weil wir um Gethsemane wissen.
Dann bliebe Jesus oder ein Mensch wie Jesus nicht allein.

Wie tragisch ist es, wenn man einem Freund und geliebten Menschen helfen möchte und es nicht kann, weil man einschlafen muss.
Befreien können wir uns durch diesen Weg, den Jesus ging, den Kreuzweg. Nicht die Liebe wird hier gekreuzigt - so ist es nicht angemessen formuliert, sondern die Liebe, die das Ego zu Kreuze trägt, damit es sterben kann.
Vor aller Augen.
Für alle Augen.
Es ist die große Leistung und Mission von Jesus, dass er den Menschen gezeigt hat: Das Ego ist euer Kreuz; das gilt es zu kreuzigen, damit ein neues Bewusstsein auferstehen kann.
So wissen Menschen, was sie tun können, um ihrer Liebe zum Sieg verhelfen zu können.
Damit sie nicht mehr schlafen muss. 
Dazu müssen wir unser Ego auf die Schädelstätte tragen.

Inmitten seiner inneren Kämpfe im Hinblick auf seinen nahenden Tod musste Jesus auch noch seine Jünger mehrfach wecken, um sie zu bitten, doch mit ihm zu sein.
So ergeht es der Liebe:
In solch einer Situation ist sie ganz allein.
Scheinbar.
In Wirklichkeit ist sie es nie.
Auch die Liebe in uns ist nie allein.
Es ist gewiss so, dass der ganze Himmel bei ihr ist.
Deshalb konnte Bonhoeffer schreiben:
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarte ich getrost, was kommen mag ...