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Montag, 9. Juli 2018

Vom Sturm in den Gassen und im Stübchen! - Mörike konnte noch keusche Liebesgedichte schreiben.

Heute ist man wieder dankbar, wenn einem nicht Sexualität förmlich aufgezwängt wird, wie das u.a. die sex-sells-Dame Helene Fischer praktiziert - ich schrieb kürzlich darüber.

Und - nein - keusche Liebe ist kein Widerspruch, denn keusch kann nicht nur enthaltsam, sondern schamhaft zurückhaltend bedeuten, und in einer Welt, in der Sexualität auf eine Weise vermarktet wird, dass sie einem schon zu den Ohren rauskommt, weil sie ein Konsumartikel geworden ist, der den Menschen fremder und fremder gegenübersteht und dazu führt, dass sie sich selbst mehr und mehr fremd werden, tut solch ein Gedicht wie das folgende richtig gut. 

Für mich zählen Eduard Mörikes fünf Strophen mit ihrer einfachen Sprache und den kindlichen Bildern zu seinen schönsten Liebesgedichten:

Begegnung

Was doch heut Nacht ein Sturm gewesen,
Bis erst der Morgen sich geregt!
Wie hat der ungebetne Besen
Kamin und Gassen ausgefegt!

Da kommt ein Mädchen schon die Straßen,
Das halb verschüchtert um sich sieht;
Wie Rosen, die der Wind zerblasen,
So unstet ihr Gesichtchen glüht.

Ein schöner Bursch tritt ihr entgegen,
Er will ihr voll Entzücken nahn:
Wie sehn sich freudig und verlegen
Die ungewohnten Schelme an!

Er scheint zu fragen, ob das Liebchen
Die Zöpfe schon zurecht gemacht,
Die heute Nacht im offnen Stübchen
Ein Sturm in Unordnung gebracht.

Der Bursche träumt noch von den Küssen,
Die ihm das süße Kind getauscht,
Er steht, von Anmut hingerissen,
Derweil sie um die Ecke rauscht



Ein Zauber der Liebe kann sich entfalten, wenn Liebe in der Schwebe des Lebendigen bleibt und nicht durch rohe Worte oder Bilder vergewaltigt wird. Ganz fein und zart und andeutend malt uns Mörike die Liebe zweier junger Menschen.

Dass die beiden Schelme, um die es im Folgenden geht, eine stürmische Nacht verbrachten und einen Sturm der Leidenschaft erlebten, während auch im Außen ein Sturm tobte und reinigend durch die Gassen fegte, ist offensichtlich.

Darin liegt ja auch der Reiz, dass Mörike im Innen und Außen diesen Sturm toben lässt und alles Weitere der Phantasie des Lesers überlassen bleibt.

Wenn heute in den Medien Liebe dargestellt wird, dann muss fast zwanghaft immer viel Reißerisches gezeigt werden und gesagt sein. Aber diese oft platten bildlichen und verbalen Liebes(spiel)darstellungen töten nicht nur den Reiz der Liebe, sondern die Liebe selbst.

Liebe will reizend sein, sie will zugleich ein Geheimnis bleiben, denn sie gehört nur den Liebenden. Wenn heute Partner über Details ihrer Liebe öffentlich berichten, geht es ihnen nicht um Liebe, sondern um eigene Zurschaustellung; es ist eine Selbstinszenierung auf Kosten der Liebe; dann kann allerdings zwischen beiden Partnern auch keine Liebe gewesen sein; sie will ja nicht ins Außen sich verpuffen, sondern nach innen wirken.

Unsere Gesellschaft hat weitgehend diese Fähigkeit verloren, Liebe ein süßes Geheimnis sein lassen zu können.

In Wahrheit will niemand über Details des Liebeslebens anderer informiert sein. Liebe lässt sich ohnehin nicht vergleichen. Sie ist für jedes wirklich liebende Paar unvergleichlich.

Keine Worte werden zwischen den jungen Liebenden gewechselt und doch wird so viel zwischen beiden in jenem kurzen Moment der Begegnung kommuniziert. Vielleicht sagen sie sich hier mehr als manche Paare ihr Leben lang.

Mörike ist ein Meister der Andeutung, wie ich es sonst nur von Conrad Ferdinand Meyer kenne, z.B. in jenem wunderbaren Gedicht Stapfen.

So einfach das Gedicht sich liest, so gekonnt ist es geschrieben. Es lebt von seinen Doppeldeutigkeiten und einem Augenblick der Begegnung, für den Mörike so bedeutungsvolle Worte bereit hält, die mehr sagen als 10 Seiten Thomas Mann, wenn da von Zöpfen die Rede ist und von den beiden Schelmen, von Diminutiven, also volksliedhaften Koseformen wie Liebchen und Stübchen.

Wie Mörike am Schluss das süße Kind um die Ecken rauschen lässt, das lässt jeden spüren, wie genau das Mädchen, so jung es ist, weiß, dass der Bursche jeden Zentimeter ihres Körpers mit seinen Blicken aufnimmt; und er weiß, dass sie spürt, wie hingerissen er ist und ihm jeder Zoll ihres Körpers Himmel auf Erden sein will.

Vielleicht finden wieder mehr Menschen zu solchen Lieben zurück.

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