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Mittwoch, 21. Mai 2008

Wenn die Scham kommt, geht die Freude


Vor vielen Jahren sitze ich mit meiner Tochter auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Decke und wir spielen und balgen; meine Tochter kräht vor Freude, Bälle und Gegenstände fliegen durch die Luft und plötzlich höre ich mich sagen: >Komm, wir hören auf, sonst passiert noch was<.
Dieser Satz verblüffte mich total, denn es war ein Satz aus dem Repertoire meiner Mutter: Immer, wenn ich mit meiner eineinhalb Jahre älteren Schwester als Kind richtig herumtollte, kam dieser Satz oder ein vergleichbarer wie: >Hört auf, gleich gibt es ein Unglück!<
Heute wundert es mich nicht mehr, dass dann meistens auch etwas passierte, was unser Spiel abrupt unterbrach und meine Mutter entsprechend zetern ließ.
Wie es auch immer ausging: Dieser Satz bedeutete das Ende der Freude.

Immer wieder begegne ich Menschen, die mir bestätigen - oder sie schreiben es mir -, wie gewinnbringend für sie die Beschäftigung mit dem Thema des inneren Kindes oder dem der Scham war und ist. Das ist auch der Grund, warum ich hier das ein oder andere persönliche Detail wiedergebe: Was ich an bzw. in der eigenen Seele erfahren habe, ist mir am unmittelbarsten bewusst; und eine authentische Erfahrung kann auch jemandem anderen eine Anregung sein - mir jedenfalls geht es diesbezüglich so. 
Ich habe das Interesse als Mensch, dass die Mechanismen der Scham aus dem Land und vor allem aus der Erziehung gejagt, besser: dass sie transformiert werden und dass wir lernen, mit unseren schambesetzten inneren Kindern Freundschaft zu schließen, ja, sie zu erlösen.

An anderer Stelle habe ich schon kurz über das Elternhaus meiner Mutter geschrieben; dort gab es keine Ausgelassenheit, keine Freude, die auch einmal überborden durfte …
Warum sollte Freude nicht auch überborden dürfen …
Wie oft schlägt die Gicht des Meeres über die Balustraden und an den Gesteinen der Ufer hoch: auch ein Meer freut sich … so freut sich auch die Seele …
Meiner Mutter war es nicht möglich, die ausgelassene Freude ihrer Kinder zu ertragen; zu groß war der Schmerz, dass diese Freude für sie immer ein Tabu gewesen war; wer sich in ihrem Elternhaus getraut hätte, sie zu zeigen, hätte sich - in übertragenem Sinne oder real - in die Ecke stellen müssen; doch die familiäre Atmosphäre sorgte schon immer dafür, dass in diese Verlegenheit keines der 10 Familienmitglieder kam
Diesen Schmerz, keine Freude leben zu dürfen, muss die Seele wegsperren - nur gebremste Freude leben zu dürfen ist unerträglich; so wird dieses Bewusstsein weggesperrt, wird zu einer dunklen Seite des inneren Kindes, die sich in den unterschiedlichsten Formen beim Erwachsenen aktivieren kann, wenn sie ausgelöst wird; bei meiner Mutter wurde sie durch die eigenen Kinder ausgelöst.
Sie konnte nicht anders, als deren überbordende Freude zu stornieren.
Alles andere war für ihr verletztes inneres Kind unerträglich.
Eigentlich unfassbar, dass die Freude der eigenen Kinder unerträglich ist; aber der familiäre Hintergrund meiner Mutter macht es verständlich.

In aller Regel lösen Kinder dunkle Seiten unseres inneren Kindes aus; deshalb ist dieses Wissen gerade für Lehrer so wichtig.
Da in dem Elternhaus meiner Mutter und entsprechend auch in meinem eigenen eine sehr traditionelle Religiosität gepflegt wurde, hatte Ausgelassenheit auch etwas Verruchtes an sich.

Damals wurde mir schlagartig bewusst, dass ich im Moment dabei war, dieses Scham-Muster an meine Tochter weiterzugeben: Freude, die an Scham gekoppelt und damit aussätzig war.
Wie die Pest!

Als ich mich mit dem Buch Bradshaws über die Scham auseinandersetzte, wurde mir bewusst, dass diese Thematik viel umfassender ist, als ich geahnt hatte, denn Freude gibt es ja nicht nur im Spiel, sondern: es gibt die Spielfreude, es gibt aber auch die Lebensfreude …
Auch Lebensfreude kann storniert werden - durch die Eltern!
Spätestens da wird das Thema existentiell …

Noch ein Nachtrag:
Jede Familie hat ihre eigenen Schamregularien und –gesetze.
Wenn zwei Menschen nun zusammenfinden, treffen auch die Regelsysteme zweier Familien zusammen. Das kann im Bereich der Scham bedeuten, dass sich recht einverständig geschämt wird, weil die Regeln relativ deckungsgleich sind … es muss aber nicht sein … dann gibt´s Probleme.
Nicht selten mag es so sein, dass nicht die Liebe scheitert, sondern dass sich die Scham-Systeme als nicht kompatibel erweisen … aber das ist ein anderes Thema … wie sagte Herr von Briest in Theodor Fontanes Roman Effi Briest, dessen Tochter u.a. an diesem Problem zugrundeging: "Ein weites Feld". 
Deshalb lebte diese Familie auch das "kleine Glück", die kleine Freude. 
Für die Tochter hatte dieses "kleine Glück" zu wenig Lebensenergie; sie starb zu früh. 
Sie trug die 
Scham
 auch ihrer Eltern mit.

Und noch eine Anmerkung:
Ich glaube, dass Mütter unbewusst (oder manchmal sogar bewusst) tatsächlich einen Wohnzimmer-Unfall energetisch inszenieren können.
Für den ein oder anderen mag das übertrieben sein, esoterisch (gemeint in einem abfälligen Sinn).
Aber man frage sich mal, warum jemand - ggf. immer wieder - "zufällig" das Messer mit offener Schneide zum Partner hinlegt oder warum manche Menschen ihre Brille immer auf die Gläser legen.
Menschen sind leider manchmal viel machtvoller, als wir glauben. Jeder kennt Beispiele, wie sehr sich jemand im Beisein eines Anderen oder durch das Zusammensein mit ihm verändert ...
Zugleich aber gilt das Gegenteil: Eine Mutter kann ein wahrer Schutzmantel für ihr Kind sein.