Selten habe ich eine Predigt gehört, die mich so berührt hat, weil sie Fragestellungen meiner beruflichen Arbeit und meines privaten Weges betrifft.
Im Folgenden möchte ich wichtige Stellen aus der Predigt von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen, Olching, ziteren, doch gebe ich aus gutem Grund den Link zum Podcast des Bayrischen Rundfunks weiter, denn in der Tat ist es beides zusammen, die Glaubwürdigkeit der Stimme und des Inhalts, die das An-Hören der Predigt so besonders gewinnbringend sein lässt.
Auszug:
Am
„Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin … Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst.“
Sebastian B. wollte kein Opfer sein. Wie ist er es geworden? Warum gab es nur diesen einen Ausweg: vom Opfer zum Täter zu werden, andere zu opfern?
[…]
Botschaften aus einer Welt, die nur Täter und Opfer kennt, liebe Hörerinnen und Hörer. Ich mag nicht glauben, dass es nur eine kleine Gruppe von männlichen Jugendlichen betrifft. Und schon gar nicht, dass man diese Welt verändert, wenn man mit Härte und Strafe und erneuter Gewalt darauf reagiert. So schlagen es Politiker immer wieder vor, weil sie sicher sind, dass sie uns damit aus dem Herzen sprechen.
Mich hat in diesen Wochen vor Ostern, in der Passionszeit ein uraltes christliches Symbol für das Opfer beschäftigt: Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. In Passionsliedern, auf Kirchenportalen, auf dem Abendmahlsbrot, in den großen musikalischen Messen begegnet es uns, reden wir es an: Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt, erbarme dich unser. Das Leid, die Ohnmacht der Opfer, die Gewalt der Täter bündelt sich in ihm, aber auch das, was hinausführt aus dieser Falle und Gewaltspirale. Diese Geschichte raubt uns die Illusionen über uns selbst, und zeigt uns aber auch, wozu wir mit Gottes Hilfe im besten Sinne fähig sind.
[…]
Aber ich muss gar nicht in die große Politik gehen. Da will ein Ehemann seine Frau verlassen und beginnt sie zu demontieren: Sie habe so herabhängende Mundwinkel in letzter Zeit, mit so einer unglücklichen Frau könne er seine besten Jahre nicht vergeuden, sie müsse einsehen, dass er zu einer anderen geht. Es ist auch unsere Geschichte vom Verrat, den wir begehen im geschützten Nest unserer Familien, der Schulklasse, der Nachbarschaft, die Geschichte von nicht ausgesprochenen Enttäuschungen, die den Groll in uns anhäufen. Es muss sich jemand anbieten, der unterliegt, mit dem man es machen kann, weil er weniger stark, weniger anerkannt ist, oder einfach jemand, der in unseren Augen zum Zerrbild seiner selbst geworden ist. Und schon läuft es wie von alleine. So heißt es beim Propheten Jesaja im 53. Kapitel über das Lamm Gottes, das Menschen zu ihrem Sündenbock machen:
Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerz und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.
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Vielleicht ist dies der Punkt, liebe Hörerinnen und Hörer, an dem es Menschen heute so schwer fällt, an die erlösende Kraft zu glauben, die vom Kreuz, vom Gotteslamm ausgeht. Gott und Gewalt sind die krassesten Gegensätze, die es gibt. Wer das verschleiert, belastet unsere Gewissen und macht aus unserem Herzen ein finsteres Loch. „Verraten, gebunden, geschlagen, verspottet, bespeit, verhöhnt, mit einer Dornenkrone gekrönt“ – das alles ist von Menschen gemacht und hat gar nichts Göttliches an sich!
Gott ist ganz anders dabei. Er ist die Macht, die Gewalt nicht rechtfertigt, sondern gewaltfrei überwinden hilft. Auch wenn Jesus seine Freunde vorbereitet auf seinen Tod und davon spricht, dass es geschehen muss; auch wenn sich das in ihren und unseren Ohren so anhört, als ob Gott dieses Opfer, diese Gewalt will, ist es ein grobes Missverständnis. Gott will nicht die Gewalt, aber ihre Lösung, und mutet sie seinem Sohn zu. Das Lamm Gottes macht nicht mit bei der Gewalt. Das ist der Ausweg. Das ist das Opfer, das Geschenk, das wir empfangen.
[…]
Jesus betet in seiner Ohnmacht – „lass den Kelch an mir vorüber gehen, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Und findet so den Ausweg aus der Gewaltspirale. Keine Rache, keine Vergeltung, kein: Er hat es verdient, ich habe es verdient, selbst verschuldet, ich muss büßen.
„Er hat niemand unrecht getan … kein Betrug ist in seinem Mund gewesen“, heißt es im Lied vom Opferlamm. Er geht den viel schwereren Weg der Vergebung. „Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.“
Und das traut Gott auch uns zu: dass unsere Seele diese schwere Arbeit auf sich nimmt, bis Hass und Groll aus ihr verschwinden und Licht, Wärme, Liebe, Barmherzigkeit Platz bekommen. Für Menschen, die schwerer Gewalt ausgesetzt waren, kann das ein jahrelanger Prozess sein, der Angst, den schwarzen Gedanken und Gefühlen zu entkommen, bis man das hilflose, ausgelieferte Opfer hinter sich lässt und wieder ein Mensch ist [...]