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Mittwoch, 18. Dezember 2019

"Der Keim kann nur sichtbar werden, wenn er, zunächst eine Weile unsichtbar, unter der Erde wächst." – Geduld in Zeiten der Vorbereitung. Weise Worte einer Gertrud Kolmar.

Für all jene, die eine neue Aufgabe suchen und noch nicht um sie wissen, oder um sie wissen, aber keine Bewegung zu ihr hin sehen: Gertrud Kolmar (1894-1943) schrieb die folgenden Worte ihrer in die Schweiz emigirierten Schwester aus ihrem ihr zwangsverordneten Judenhaus in der Speyererstraße 10 - und es sei noch angemerkt, dass sie nicht nur für Dreißigjährige gelten, denn neue Aufgaben kommen in jedem Alter auf uns zu, solange jedenfalls, solange wir bereit zu neuen Aufgaben sind (und das kann auch mit neunzig noch sein):
"Ich kann es verstehen, dass Du gleichsam nach einer neuen Aufgabe hungerst. Ich weiß auch, wie sehr die eigene Leistung erfreut; aber ich sehe heute (was ich nicht immer sah), daß die Zeit der Vorbereitung auf diese Aufgabe, diese Leistung, die noch völlig im Dunkel stecken, ebenso wichtig und wertvoll ist. Der Keim kann nur sichtbar werden, wenn er, zunächst eine Weile unsichtbar, unter der Erde wächst. Das hat mir, als ich selbst jünger war, keiner gesagt; aber vielleicht ist es gut, daß ich es Dir heute sage. Vielleicht ist für Dich jetzt die Zeit der Vorbereitung gekommen, auch wenn Du selbst kaum darum weißt. Denn wenn ich jetzt Deine Briefe lese, habe ich manchmal ein Gefühl, das ich nie hatte, wenn Du früher hier mit mir sprachst; es scheint mir, daß du eine Wanderung angetreten hast, die ich den "Weg nach innen" nennen möchte. (Gibt es nicht ein Buch von Hermann Hesse mit mit dem gleichen oder einem ähnlichen Titel?) "Bereit sein ist alles." Ich halte das Bereitsein zur Leistung für mindestens ebenso wichtig wie die Leistung selbst und die Leistung ihrerseits für viel wichtiger als den Erfolg, den sie zeitigt. Ich denke dabei nicht bloß an den Erfolg im schlechten, sondern auch an den Erfolg im guten Sinne, und es mag Dich am Ende merkwürdig berühren, wenn ich gestehe: die Tatsache, daß mein Schaffen anderen Menschen etwas gibt, macht mir, so erfreulich sie ist, doch nicht solche Freude wie das Schaffen selbst. Es geht mir mit meinen kleinen Werken wie einer Mutter mit ihrem neugeborenen Kind; natürlich freut sie sich über die Begeisterung des Vaters, der Großeltern, die Glückwünsche der Verwandten, jedoch die Hauptsache bleibt, die größte Freude ist ihr, daß sie es zur Welt gebracht hat. So sind mir meine lieben Dichtungen die beiden letzten (und besten), die, weil noch unveröffentlicht, noch gar keinen Widerhall fanden. Ich spreche hier davon, weil ich eine Bitte an Dich habe: Ich möchte Dir je eine Abschrift von diesen beiden Werken (Verszyklus und Drama) übersenden. Du sollst sie gewissermaßen ins "Depot", in Verwahrung nehmen, da ich nicht weiß, was das Schicksal mit mir selbst vorhat, wohin es mich verschlagen wird."

PS Bei den angesprochenen Werken handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um ihren letzten großen Gedichtzyklus Welten und evtl. um Cecile Renault, ein Schauspiel aus der Zeit der Französischen Revolution. 
Viele Gedichte und Werke von Gertrud Kolmar sind nur erhalten, weil die Dichterin sie anderen Menschen zur Aufbewahrung gab. Sie selbst wurde im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion der Nazis wie tausende anderer Juden vom Arbeitsplatz weg verhaftet und verstarb sehr wahrscheinlich auf dem Transport im offenen Viehwagen oder wurde unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet; ihren schicksalhaften Tod hat sie in mehreren Bemerkungen, auch in Gedichtzeilen, wiederholt vorweggenommen).


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