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Sonntag, 31. Oktober 2021

„Keine Hierarchie / Von Heiligen auf goldnen Stühlen / Sitzend / Kein Niedersturz / Verdammter Seelen / 
Nur / Nur Liebe“ - Gedanken einer großen Dichterin zu Allerheiligen und Allerseelen und dem Leben nach dem Tode.


Glauben Sie fragte man mich 

An ein Leben nach dem Tode 

Und ich antwortete: ja 

Aber dann wusste ich 
Keine Antwort zu geben 

Wie das aussehen sollte 

Wie ich selber
Aussehen sollte 

Dort 

Ich wusste nur eines 

Keine Hierarchie 

Von Heiligen auf goldenen Stühlen 
Sitzend 

Kein Niedersturz 

Verdammter Seelen 

Nur 
Nur Liebe frei gewordene 

Niemals aufgezehrte 

Mich überflutend 


Kein Schutzmantel starr aus Gold

Mit Edelsteinen besetzt

Ein spinnenwebenleichtes Gewand

Ein Hauch

Mir um die Schultern

Liebkosung schöne Bewegung

Wie einst von tyrrhenischen Wellen ...

Wortfetzen

Komm du komm 



Schmerzweb mit Tränen besetzt

Berg- und Talfahrt

Und deine Hand

Wieder in meiner

So lagen wir lasest du vor

Schlief ich ein

Wachte auf

Schlief ein

Wache auf

Deine Stimme empfängt mich

Entlässt mich und immer

So fort 


Mehr also, fragen die Frager 

Erwarten Sie nicht nach dem Tode? 
Und ich antwortete 

Weniger nicht.

(Marie Luise Kaschnitz, „Ein Leben nach dem Tode“)



Vor wenigen Tagen starb meine ältere Schwester Gabriele und ich bin froh und dankbar, dass sie gehen durfte. Sie war ein tapfere Kämpferin gewesen, die es sich wahrlich verdient hatte, Ruhe zu finden, wenn ich allein an die 33 Vollnarkosen denke, die sie wegen einer misslungenen Hüftoperation und anderen Leiden über sich hat ergehen lassen müssen.
Ich habe nie ein Jammern von ihren Lippen gehört und im Nachhinein mutet mich das fast unfassbar an. In einem den Trauergottesdienst vorbereitenden Gespräch mit der Pfarrerin ihrer Konfession, in dem die Frage nach der Bedeutung des Leidens von jener gestellt wurde, sagte ich, dass ich das nur im Zusammenhang vieler Leben, die wir leben, sehen könne. Am Ende der Gesamtheit unserer physischen Leben wird sich für mich, wenn es gutgeht, jenes Wort aus dem 21. Kapitel der Offenbarung des Johannes bewahrheiten, wenn es heißt: 
Gott wird ihnen alle Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid, keine Klage und keine Schmerzen; denn was einmal war, ist für immer vorbei.
Aber dann wusste ich keine Antwort zu geben
Ich finde, es tut gut, wenn jemand nicht zu verschleiern sucht, dass er keine Ahnung von etwas hat. Marie Luise Kaschnitz - jene 1901 in Karlsruhe geborene und 1974 in Rom verstorbene große Dichterin, die ich in eine Reihe stelle mit Autorinnen wie Annette von Droste-Hülshoff, Ricarda Huch, Gertrud Kolmar und Ingeborg Bachmann und die in diesem Gedicht vermutlich den Tod ihres 1958 verstorbenen Mannes Guido Kaschnitz von Weinberg verarbeitete - tut das ebenfalls nicht; ihre Worte
Aber dann wusste ich 
Keine Antwort zu geben 

Wie das aussehen sollte 
können kaum ehrlicher sein und manche Esoteriker, die ihre gedanklichen Spekulationen als Wahrheiten ausgeben, könnten sich eine dicke Scheibe abschneiden.
Für mich war vor vielen Jahren die Lektüre von Anthony Borgias „Das Leben in der Unsichtbaren Welt“ eine erste absolut Aufsehen erregende Begegnung mit der Thematik, wie es im sogenannten Jenseits - manches scheint dort viel umfassender lebendig zu sein als in unserer Realität - aussehen könnte und ich habe auf meinem Blog Wortbrunnen Auszüge aus einem Vortrag Rudolf Steiners reingestellt (https://bit.ly/3GDiC2o), der beleuchtet, wie tatsächlich lebendig die sogenannten Toten sind und dass wir uns einen großen Gefallen tun, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass einige ständig um uns sind und manches, was wir als zufälligen Einfall werten, in Wahrheit aus ihrem „Munde“ kommt. Mancher mag das belächeln, für mich allerdings weiß ich, dass wenn man zur Kenntnis nimmt, woher mancher Geistesblitz kommt und diese Herkunft mental auch akzeptiert, man sich eine Quelle umfassender erschließt, die zu unserem Vorteil intensiv sprudeln kann; dabei ist nicht einmal jener Dämon, den Platon im Zusammenhang mit dem Leben des Sokrates erwähnt und der ebenfalls eine sehr vorteilhafte Bedeutung für uns haben kann, einbezogen, der in den kommenden Krisenzeiten der Menschheit, in denen wir wieder leben werden, uns eine fast unerlässliche Hilfe sein wird - zumindest sein kann). 
Die Beziehung zu den Toten wird ja auch in einem für mich fast existentiellen Buch zur Nahtod-Thematik, nämlich Raymond Moodys Leben nach dem Tod angesprochen (https://bit.ly/3w0HbRY). Jene Toten, die erscheinen, um Sterbende abzuholen, sind auch sehr oft jene, die uns jetzt schon begleiten.
Kein Niedersturz verdammter Seelen
Es mag - und ich vermute auch, dass es so sein kann - Seelen geben, die, alle Zeiten überdauernd, sich der Liebe verweigern. Ein Gedanke, den man sich nicht vorstellen mag. Deshalb wohl kommen jene Zeilen der Kaschnitz so wohltuend bei mir an,
Kein Niedersturz 

Verdammter Seelen 

Nur 
Nur Liebe frei gewordene 

Niemals aufgezehrte 

Mich überflutend

die sich dem Jahrhunderte währenden Trommelfeuer der Kirchen des Christlichen Abendlandes und Religionen wie dem Islam und deren angstmachenden Aussagen, die sehr bewusst den Hintergrund der großen Weltbühne mit jenem Popanz eines großen Weltgerichtes drohgebärdend und furchteinflößend wackeln lassen, widersetzen. 
>Ge-richt-e< geben >Richt-ung<; nicht von ungefähr offenbart ihre Bedeutung sich in der gemeinsamen etymologischen Grundlage beider Worte, sich ableitend aus dem gemeingermanischen Adjektiv >reht<, unter anderem mit der Bedeutung aufrichten, sich recken, geraderichten. Darin besteht der Sinn von Gerichten, dass sie etwas, was sich verbogen hat, neu ausrichten, und wir begegnen ihnen in vielerlei Varianten, sei es im Rahmen des Kamaloka, durch welche die Seele eine neue Ausrichtung erfährt (https://bit.ly/3GyvAP3), oder dem aktuellen Gericht unseres Gewissens, wenn wir dessen Bedeutung zu nutzen die Kraft und den Mut haben und in der Lage sind, uns selbst neu zu justieren. 

Gerichte haben ja in ursprünglicher Bedeutung nichts mit Verurteilungen zu tun, sondern erfassen den Tatbestand des von uns Geleisteten und wollen im Sinne des biblischen Wortes metanoia, das Luther leider mit Buße übersetzte, uns die Möglichkeit bieten, in diesem Moment unser Sein in eine neue Richtung auszurichten, falls notwendig [metanoia bedeutet, den Sinn zu wenden]. 
Im Grunde blitzt hier eine Institution unseres eigenen Inneren auf, die wir als Menschen nach außen verlagert haben, wie es auch Franz Kafka, literarisch so bemerkenswert, in seiner Türhüterlegendespiegelt (https://bit.ly/3GFWKDI). Doch ist der Türhüter nichts anderes als ein verborgener Teil unseres Selbst, der sogenannte Hüter der Schwelle.
Unser Umgang mit einem Urstrom namens Liebe

Manche retten sich vor ihr in Seitenarme und dümpeln in Kehrwassern der Liebe vor sich hin (oft sind es gerade jene, die sehr viel über Liebe erzählen und Kennerschaft vermitteln wollen …), manche bauen auch ein Wehr und lassen nur per Schleuse durch, was sie gestatten (und das ist meist recht wenig), während das eigentlich frei strömen wollende Wasser an einer verzementierten Stelle sich flussabwärts durch jene hindurchquält.
In der Flut der Liebe zu strömen, will erübt sein; man kann auch recht besinnungslos in ihr dahintreiben.
Möglich aber ist, bewusst eine Liebeswelle zu sein und Teil des großen Liebesganzen.
Dass das viel mit dem sogenannten Tod zu tun hat, darauf verweist der Bruder aller Liebenden, der, damit Menschen die Liebe erleben können, sein Leben opferte.
Ein überwiegender Teil der Menschheit hat das (noch) nicht begriffen.
Warum mich obiges Gedicht der Kaschnitz so berührt, ist, weil sie keine der fromm und hehr dahersalbadernden Pseudo-Heiligen ist. Ja, sie sieht den Menschen als Esel, wie er als solcher ein Drehkreuz selbst im Kreis bewegt, um an das Wasser (des Lebens) heranzukommen, es an die Oberfläche zu befördern - wahrlich kein Leben in Saus und Braus:
Die Gärten untergepflügt

Die Wälder zermahlen

Auf dem Nacktfels die Hütte gebaut

Umzäunt mit geschütteten Steinen

Eine Cactusfeige gesetzt

Einen Brunnen gegraben

Mich selbst

Ans Drehkreuz gespannt

Da geh ich rundum

Schöpfe mein brackiges Lebenswasser

Schreie den Eselsschrei

Hinauf zu den Sternen.
Obwohl solche Schreie qualvoll durch die Nacht des Lebens schallen können, sehe ich sie als ein positives Zeichen, weil sich aus dem Inneren etwas herauslösen will. Wie eindrucksvoll hat Edvard Munch einen dieser Schreie zur Darstellung gebracht (https://bit.ly/3kc3tvx) für eine Zeit - literarisch ist es der Expressionismus -, die mit dem Gedicht eines Jakob von Hoddis („Weltende“, 1911) wie ein Fanal in dessen erster Strophe beginnt:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
In allen Lüften hallt Geschrei: Das gilt auch für heute und auch heute steigt von neuem wieder das Wasser - und zwar tatsächlich -, den Schreienden zugleich auch im übertragenen Sinne bis zum Hals stehend. Möge die Menschheit die derzeitige Prüfung bestehen; das kann nur sein, wenn sie ihr Vertrauen dem einzig Vertrauenswürdigen anvertraut. Nicht wenige schrecken davor zurück und unterstützen eine geistlose, materialistische Ausrichtung - sie scheint ja auch so viel sicherer als ein geistiger Schutz (ich nenne nicht jenes Wort, um das es hinsichtlich einer Ausrichtung geht - wie schön ist doch ein Artikel in dieser Zeit, in dem es mal nicht vorkommen darf).
Und lass, solang ein Leben währen kann, / Die Liebe währen.
Einen bemerkenswerten Abschluss der angesprochenen Thematik findet sich mittels eines Sonetts unserer Autorin; es gehört zu jenen Gedichten, die mich sehr berühren; überschrieben ist es mit „Ewigkeit“:
Sie sagen, dass wir uns im Tode nicht vermissen
Und nicht begehren. Dass wir, hingegeben
Der Ewigkeit, mit andern Sinnen leben
Und also nicht mehr voneinander wissen,

Und Lust und Angst und Sehnsucht nicht verstehen,
Die zwischen uns ein Leben lang gebrannt,
Und so wie Fremde uns vorübergehen,
Gleichgültig Aug dem Auge, Hand der Hand.

Wie rührt mich schon das kleine Licht der Sphären,
Das wir ermessen können, eisig an,
Und treibt mich dir ans Herz in wilder Klage.

O halt uns, Welt, im süßen Licht der Tage,
Und lass, solang ein Leben währen kann,
Die Liebe währen.
Mich berührt, wie sehr Marie Luise Kaschnitz die Liebe als Anker sehen kann. Mich berührt auch, dass sie nicht über dieses Leben hinauszusehen vermochte. 
In diesem aktuellen Moment vermag sie es sicherlich, lebend in jenem großen Weltinnenraum, wie auch meine Schwester Gabriele.
Und heute und jetzt mögen beide um das Paulus-Wort wissen, das jener der Gemeinde zu Korinth schrieb: 
Die Liebe wird niemals vergehen.
Das bedeutet auch, dass sie nie entstand und immer schon besteht.
Wenn wir darum wissen dürfen, muss nicht mehr Klage sein, noch Geschrei, noch Leid … Und Gott wird abwischen alle unsere Tränen … Er wird das ganz persönlich tun … auf einer geistigen Ebene … falls wir ihr vertrauen. - Selbstverständlich ist das nicht.

PS. Das Foto zeigt "Bruder Tod. Menschengruppe", eine von Christiane Weiel gefertigte Holzplastik, zu finden auf dem Franziskus-Weg in der Rhön (https://www.franziskusweg.de)

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