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Freitag, 11. Februar 2022

Du musst, du musst, du musst ... - von einem Modalverb und seinen seelischen Folgen

 Gewiss, es gibt Situationen, da lässt sich auf seine Verwendung kaum verzichten und manchmal drückt es ja auch etwas ganz anderes aus als eine zwanghafte Aufforderung, wenn beispielsweise die Mutter zu ihrem Kind am Bahnsteig sagt: "Du musst jetzt aber einsteigen!", weil sie sieht, dass der Zug in einer Minute abfährt und ihr cooler Junge immer noch dasteht, als wolle er sich erst noch einen Döner holen.

Als ich mich vor vielen Jahren - gefühlt ist es schon einige Leben her - mit der Transaktionsanalyse beschäftigte und einem, wie ich finde, genialen Buch, Babcock/Keepers´ "Miteinander wachsen" (https://bit.ly/33jMhyU), wurde mir die Rolle eines zwanghaften "müssen" bewusst und ich habe es so schlagartig wie möglich in meinem Unterricht zu vermeiden versucht. Immer geht das natürlich nicht, doch nach einiger Zeit öfter als man denkt. Stattdessen  habe ich, gerade als Klassenlehrer zurückgegriffen auf Formulierungen wie "Lasst uns zusammen ..." oder "Lasst und gemeinsam ...". - Das sind wahre Zauberformeln und das Einzige, was man beachten sollte, ist, sie nicht manipulativ einzusetzen und Kinder nicht zugunsten eines Lehrer-Ego über den Tisch zu ziehen; auch das ist ja möglich.

Aber das Gefühl, etwas in gemeinsamem Einverständnis zu tun, ist eines der schönsten Gefühle, die man, finde ich, als Lehrer haben kann.

Nun trug es sich zu, dass ein recht junger Musiklehrer während des Unterrichts in "meine" 5. Klasse kam, in der ich also Klassenlehrer war, weil er etwas Nicht-Aufschiebbares anzusagen hatte, und ich sehe noch heute die Situation vor mir, wie er sagte: "Ihr müsst also eure Noten mitbringen" und "Ihr müsst pünktlich sein, gute Laune mitbringen" und "natürlich müsst ihr zur Aufführung gepflegt aussehen, also nicht im Unterhemd erscheinen". So ging das eine ganze Weile und ich merkte, wie meine Klasse innerlich so richtig zusammenschrumpelte, wie die Kinder seelisch in die Knie gingen. 

Äußerlich sah der Musiklehrer natürlich nichts, aber ich spürte, was mit ihnen los war, denn dieses "müssen" waren sie nicht mehr gewohnt; wie ein Alp legte es sich auf ihre Seelchen.

Und als der Musiklehrer mit seinen Ausführungen fast am Ende war und erfolgssicher die Klasse demnächst verlassen wollte, erhob sich ein Ärmchen und ein Junge fragte:

"Müssen wir eigentlich kommen?"

Mit dieser einzigen Frage, mit vier Worten brachte da ein Kind genau die Problematik auf den Punkt, die sich hier verbirgt. - Wer will bei so vielem "müssen" wirklich kommen ...

Hinter diesem Modalverb, das so genannt wird, weil es ja die Art und Weise eines Geschehens festlegt - die anderen lauten dürfen, können, mögen, sollen  und wollen - steckt versteckt oft ein Eltern-Ich, ein Ausdruck von Machtgefälle, eine Zwanghaftigkeit, die wir unreflektiert ein Leben lang Gefahr laufen zu transportieren und an unsere Kinder bzw. unsere Umgebung weiterzugeben.

Und "sollen" ist nicht viel besser, nur subtiler, vor allem, wenn es in konjunktivischer Form daherkommt: "Ihr solltet gute Laune mitbringen!"

Was wirklich zählt:

Wir dürfen uns bewusst sein, etwas in Freiheit tun zu können.

Mögen wir, möge die Menschheit diesen Weg vom müssen und sollen zum dürfen und können bewusst gehen!

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