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Samstag, 8. November 2008

Alp-(T)Raum Schule: statt Sinnlehre Sinnleere, statt Gegenwart Flucht, statt Wertesubstanz Stoffüberfülle

In Jahrgang 12 und 13, den letzten beiden Jahren vor dem baden-württembergischen Abitur im Fach Deutsch haben die Schüler drei Werke zu lesen, zu verstehen und Interpretationsansätze kennenzulernen. Für das Abitur 2010 beispielsweise sind es zwei Erzählungen (Kafka: Der Prozess, Kleist: Michael Kohlhaas) und ein Schauspiel (Schiller: Die Räuber). In díesen Werken finden sich zahlreiche Passagen voller Gewalt von Menschen gegen sich selbst und andere; es findet sich kein Beispiel überzeugender Liebe in ihnen, dagegen Menschen, die unfähig sind zu kommunizieren, Väter, die keine Väter und Männer, deren weibliche Seite - um es beschönigend zu formulieren - am Hungertuch nagt. Es findet sich eine Ehefrau, die von ihrem Mann an existentiellen Entscheidungen nicht beteiligt wird und eine Geliebte, deren Geliebter sich vor ihr verleugnet und sie dann ermordet.
Ein Außenstehender könnte sich fragen, ob es nicht Werke gibt, die auch eine aufbauende Substanz beinhalten. Abgesehen davon, dass dies offensichtlich kein Kriterium in Bezug auf die Auswahl der Werke zu sein scheint, könnte man sich fragen, ob es in der deutschen Literatur nur noch kranke Menschen gibt oder nicht auch Menschen, die Probleme wie alle haben, aber Lösungen finden. Ist Literatur langweilig, wenn sie konstruktiv ist, wenn sie aufbauend ist, womöglich mit Menschen voll überzeugender Liebe?
Destruktives scheint Schüler am besten auf das Leben vorzubereiten.
Halt, da gibt es ja noch ein Sternchenthema "Liebe in der deutschen Lyrik".
Das ist bemerkenswert und erfreulich, ist es doch DAS Thema, das menschliches Leben lebenswert macht und geistiger Hintergrund des christlichen Abendlandes und fast aller Religionen auf der Welt ist, das alle Menschen bewegt und in seinen Mittelpunkt das perpetuum mobile kosmischer Energie stellt: die Liebe.
Und haben wir nicht in der deutschen Literatur Gedichte, die den Zusammenhang zwischen menschlicher und göttlicher Liebe auf fast traumhafte Weise ansprechen wie z.B. Goethes Marienbader Elegie, welche die Frage nach den Ursprüngen der Liebe aufwerfen wie Schillers Reminiszenz, die in den Mittelpunkt die Frage nach der Realität des Ewig-Weiblichen und der Walküren stellen wie Hölderlins An die Unerkannte, die die tatsächliche Realität der Liebe auf der Erde ansprechen wie Mörikes Peregrina-Gedicht Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden oder Kästners Sachliche Romanze, die den versteckten Chauvi in den Vordergrund rücken wie Brechts Entdeckung an einer jungen Frau, die den Zauber der Volkslieder odes des Volksliedtons beschwören wie Mörikes Begegnung oder Ich hört ein Sichelein rauschen oder die Liebe zu sich selbst thematisieren wie Ingeborg Bachmanns Erklär mir Liebe ... die Liste ließe sich beliebig weiterführen mit all den Facetten, die Frauen und Männer unseres Sprachraums über Jahrhunderte hinweg thematisiert haben, von tollen Gedichten in Italienisch oder Englisch wie Michelangelos oder Shakespeares Sonetten, die man ergänzend einbringen könnte, gar nicht zu reden.
Voraussetzt das natürlich, dass wir mit den Jugendlichen uns austauschen über ihre Erfahrungen mit familiärer Liebe oder mit ersten Freundschaften und dass wir mit ihnen Quellentexte zu diesem Thema lesen, z.B. was Platons Diotima zu sagen hat, wenn sie Sokrates in Sachen Liebe unterweist, was Kahlil Gibran, einer der wohl zu diesem Thema meist gegoogelten Autoren ausführt, Krishnamurti, Paulus oder Moses als litarischem Zeugen des wohl für uns bedeutendsten göttlichen Liebesaktes, als Gott in Liebe den Menschen schuf. Da gäbe es die Möglichkeiten zu Auszügen aus Franz Alts Liebe ist möglích oder Fromms Die Kunst des Liebens, ja man könnte so weit gehen nachzuforschen, was so hochberühmte Denker wie Kant zu diesem Thema zu sagen hatten und müsste feststellen: seltsamer- oder bezeichnenderweise herzlich wenig.
Tatsächlich könnte es dann so sein, dass Jugendliche eine Vorstellung entwickeln, woher Liebe kommt, wohin sie geht, was sie im Leben bedeuten kann, durch was sie verhindert wird - man denke an die Bildnisproblematik Frischs -, was sie fördert oder ermöglicht ... ob Liebe auch in der Politik möglich ist, im Beruf, in der Schule, ob wir alle die gleichen Voraussetzungen haben, um Liebe zu verwirklichen und was uns dazu die Entdeckung der Spiegelneuronen Erhellendes sagen kann, nämlich, dass es genau so eben nicht ist ...
Das alles ist eigentlich notwendig, damit Jugendliche wissen, welche Dimensionen dieses Thema hat, das doch ihr Leben bestimmen sollte.
Spannend!
Wie sinnvoll!
Welch eine Vorbereitung auf das Leben ...
Welch eine tolle Thematik ...
Die Realität allerdings sieht ganz anders aus.
In den ca. 55 Schulwochen bis zum Abitur sind eben die zwei genannten Romane und das Theaterstück zu bearbeiten, ist zusätzlich ein Werk nach 1945 zu lesen, eigentlich sollte auch Goethes Faust, zumindest der erste Teil gelesen werden; es müssen die 5 Formen möglicher Themenstellungen im Abitur vorbereitet, in Hausaufgaben und Klassenarbeiten geübt und besprochen werden - und die sind nicht ohne -, eigentlich sollte auch eine Unterrichtseinheit zum Thema Reflexion über Sprache durchgeführt werden und Schüler haben zum Teil verpflichtende Referate zu halten oder Hausarbeiten anzufertigen.Damit ist noch nicht alles benannt. Zwar kann davon ein Thema, das für die schriftliche Abiturprüfung nicht relevant ist, in die Zeit zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur gelegt werden, aber offensichtlich ist: Die zur Verfügung stehenden Stunden sind heillos überfrachtet, davon abgesehen, dass immer wieder einige ausfallen oder man eine Doppelstunde hat, vor der eine Mathematik-Klausur geschrieben wurde oder eine in den darauf folgenden ansteht: keine optimale Voraussetzung für gedeihlichen Unterricht.Um es kurz zu sagen:
Über Liebe wirklich zu sprechen oder über sie zu lesen: davon kann keine Rede sein.
Ich glaube ohnehin, dass von den Verantwortlichen die Thematik auch nicht ansatzweise so konzipiert ist, wie ich es oben beschrieben habe - es ist schlichtweg gar nicht möglich.
Ja, ich möchte behaupten, dass bei den Verantwortlichen gar kein Bewusstsein für die Dimensionen dieser Thematik besteht. Sonst könnte man nicht so lieblos mit Liebe umgehen, so fahrlässig, so bewusst-los.Die Zeit, um die Voraussetzungen zu schaffen, über dieses Thema sinn-erfüllt schreiben zu können, ist gar nicht vorgesehen.
Um Liebe kann es also nicht gehen.
Zwar könnte Deutsch mit Religion bzw. Ethik kooperieren, aber die Leitung muss in der Hand des Deutschlehrers bleiben, der sich die fehlende Zeit dennoch nicht stricken kann.
Was also lernen Jugendliche, wenn Erwachsene sie über Liebe schreiben lassen?
Für Liebe keine Zeit.
Dabei könnten sie lernen:
Liebe adelt Zeit!
Ich habe mit meinen Schülerinnen und Schülern einen Auszug aus dem Hohelied Salomos gelesen, einen Platon-Text, Kahlil Gibran ... und ich fand, es fanden interessante Gespräche statt, doch dann musste ich abrupt abbrechen, weil der zentral festgelegte Termin der ersten Deutsch-Klassenarbeit auf uns zukam, ich eine Hausaufgabe stellen und besprechen musste und erkannte, dass die meisten in den vorausgegangenen Klassen kaum eine wirkliche Gedichtinterpretation geschrieben hatten, was eigentlich hätte der Fall sein sollen; dabei müssen alle noch einen Gedichtvergleich in Sachen Liebe lernen ...
Da könnte Liebe zur Quälerei werden.
Um Liebe ging es wirklich nicht mehr ...
So wird dieses wertvolle Thema in unserem Schulsystem verunmöglicht, vergeudet, verschwendet, missbraucht.

Da hat Mörike wohl recht, wenn er schreibt:

Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,
Geht endlich arm, zerüttet, unbeschuht;
Dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht,
Mit Tränen netzet sie der Füße Wunden.


Und das Schlimme für mich ist: Meinem Eindruck nach ist das kaum jemand bewusst. Vielleicht ist es auch einfach egal ...
Von Liebe keine Spur.
Kein Raum, keine Zeit für Liebe.Kein Wunder, dass so viele Kinder aus diesen auch seelisch-geistig zumeist lieblosen Räumen hinauswollen, ja flüchten.Ist das nicht sogar eine gesunde Reaktion?

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