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Samstag, 31. Mai 2008

Goethes "Vermächtnis altpersischen Glaubens": Offenbarung durch Tätigsein

Wie lernen wir?
Wodurch geht uns ein Licht auf?
Wie kann uns etwas offenbar werden?

Durch wertvolle Bücher und ihr gründliches Studium?
Durch ein Nach-innen-Hören?
Durch Gespräche mit Menschen?


In Goethes großartiger Gedichtsammlung West-Östlicher Divan finden wir im Buch der Parsen, also in jenem Buch, das den Anhängern der Religion des Zarathustra gewidmet ist, ein faszinierendes Gedicht, es ist überschrieben:

Vermächtnis altpersischen Glaubens.

Faszinierend ist es für mich, weil es in einfacher Form eine große Lebensweisheit birgt, von einem alten Parsen gesprochen.


Seine siebte Strophe lautet:

Und nun sei ein heiliges Vermächtnis
Brüderlichem Wollen und Gedächtnis:
Schwerer Dienste tägliche Bewahrung,
Sonst bedarf es keiner Offenbarung.

Im täglichen Bewahren der Dienste, die wir tun, wird uns das zuteil, was wir benötigen. Darin liegt das Wahre, das wir be-wahr-en sollten: zu erkennen, wie im Tun alltäglicher Dinge sich das Große zeigt. Im täglichen Tun liegt alle notwendige Offenbarung: das ist ein heiliges Vermächtnis.

Und es folgen Beispiele:

Schleppt ihr Holz herbei, so tuts mit Wonne!
Denn ihr tragt den Samen irdscher Sonne,
Pflückt ihr Pambeh, mögt ihr traulich sagen:
»Diese wird als Docht das Heilge tragen.

So schlicht es sein mag, Pambeh, also Baumwolle zu pflücken, so bedeutungsvoll ist dies, denn sie wird als Docht uns Licht bringen, und Licht ist heilig!
Wie wertvoll also ist das Pflücken von Baumwolle!
Und weiter heißt es:

Werdet ihr in jeder Lampe Brennen
Fromm den Abglanz höhern Lichts erkennen,
Soll euch nie ein Missgeschick verwehren
Gottes Thron am Morgen zu verehren.

In jenem Licht, das sich im Brennen eines Baumwolldochtes zeigt, liegt ein Verweis auf jenes große Licht, das in wohl allen Religionen mit dem Göttlichen gleichgesetzt wird. Es liegt an uns, im schlichten Leuchten einer Lampe zu erkennen, dass ihr Licht für Höheres leuchtet. Der Mann, der in einer Marienkapelle für seine schwer kranke Frau ein Licht anzündet, wendet sich an jenes große Licht, genauso wie jene Mutter, die zu Hause für ihren Sohn eine Kerze anzündet, damit er heil aus Afghanistan oder dem Irak zurückkehre möge. All jene Menschen, die dies auch in diesem Moment tun, glauben fest an die Wirkung ihres Lichts.


Es ist uns nicht möglich, in das große Licht zu sehen, wir können es nur indirekt wahrnehmen, wir können nur seinen Abglanz schauen. JedesTun von uns kann jedoch somit zugleich den Glanz des Höchsten spiegeln.
Diese Sicht auf unser Leben ist der religiöse Bass, der in Goethes Schaffen schwingt, ja, es trägt.


In jenem Werk, an dem der große Weimarer über fünf Jahrzehnte seines Lebens schrieb - die letzten Zeilen mit 80 Jahren - finden wir Entsprechendes:


Zu Beginn des zweiten Teils von Faust ist dieser aus einem Heilschlaf erwacht, in den ihn der Engel Ariel und dessen Gehilfen versetzt hatten. Nach den vier Todesfällen am Ende von Faust, Teil I, hatte dieser große Suchende den Heilschlaf bitter nötig. Er war ja u.a. maßgeblich daran beteiligt, dass Margarethe, die Frau, die ihn so liebte und auch für ihn ein Kind unter ihrem Herzen trug, sterben musste, weil sie glaubte, ihr gemeinsames Kind nicht austragen zu können; Faust hatte sie schmählich im Stich gelassen.


Nun wacht er auf, seine Seele ist geläutert, er befindet sich auf einer Gebirgshöhe und gerade geht die Sonne auf, Faust sieht, wie ihr Strahlen in und aus den Felsgründen höher und höher steigen, er ist fasziniert von dem Flammenübermaß der Sonne, das er ahnt, und genau in dem Moment, den er so ersehnt, nämlich, als er in das höchste Licht, das wir als Menschen auf der Erde kennen, schauen will, muss er bemerken:

Sie tritt hervor! - und, leider schon geblendet,
Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.
So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen;
Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen
Ein Flammenübermaß, wir stehn betroffen;
Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
[...]
So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau' ich an mit wachsendem Entzücken.
Von Sturz zu Stürzen wälzt er jetzt in tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
Wir können nicht direkt in das Licht sehen, aber wie groß kann unsere Freude, unser Entzücken sein, wenn wir den Regenbogen sehen, der sich im Schaum des Wasserfalls in die Luft zeichnet. Ihn können wir sehen, er verweist uns auf das große Licht. Seine Farben, wie alle Farben des Lebens, verweisen uns auf den eigentlichen Glanz.
In den Farben des Lebens liegt die höhere Bedeutung dessen, was wir tun:

Die Mutter, die ihre Kinder nährt und erzieht, arbeitet im Dienst des Ewig-Weiblichen;
der Schäfer, der sich um seine Schafe kümmert, schützt die Unschuld des Lebens;
der Computerspezialist, der ein neues Programm erarbeitet, dient der Fortentwicklung der menschlichen Gesellschaft, für die es keinen Stillstand geben kann;
die Putzfrau trägt Sorge, dass alles in Reinheit geschieht.

Alles, was wir tun, hat seine Bedeutung, wenn wir in der Lage sind, ihm diese Bedeutung zu geben.
Nicht irgendjemand von außen kann dem, was wir tun, wirklich seine Bedeutung geben; wir müssen sie selbst erkennen.
Das Tätigsein im Dienste des Menschlichen verleiht unserem Leben seinen Glanz, seine Farbe.

Wenn wir das so sehen können und wollen...
Ich empfinde dies als eine tiefe Wahrheit.

Auch den täglichen Dienst im Sinne Goethes wahr-zunehmen, halte ich für eine bedeutende Möglichkeit unserer Entwicklung. Ob sie allerdings bei den vielen familiären Verstrickungen, den vielen Programmen bzw. Blockaden im Bereich der Scham und den Verletzungen des inneren Kindes ausreicht - vielleicht für Goethe, für mich nicht.
Ich bedurfte und bedarf mehr -

davon ein andermal.


Wer das ganze Gedicht Vermächtnis altpersischen Glaubens lesen möchte: hier