Seiten

Samstag, 2. Mai 2009

Leben wir in unserer eigenen Zeit? – Woher die SehnSucht kommt ...


Wenn wir die Zeit als einen Fluss sehen und unsere Leben als dessen Verlauf, beginnend mit der Quelle und mündend im Meer, wo befinden wir uns dann im Moment?

Sitzen wir an seinem Ufer und winken den vorbeifahrenden Ausflugdampfern und Lastkähnen zu?

Oder sind wir gerade vor der Loreley auf ein Riff gelaufen?

Vielleicht sind wir auch in einen Nebenarm abgebogen und haben uns da eine Nische gesucht, in der wir dahindümpeln?

Oder hängen wir in einem Wehr fest oder gar in dessen Walze, jenem Wasser, das nach der Staustufe folgt und das für manchen Schwimmer und Kajakfahrer schon zur tödlichen Falle wurde?


Es gibt viele Möglichkeiten, wie man sich aus der eigenen Lebensrealität ausklinken kann und doch das Gefühl hat, mitten dabei zu sein. Das geht ja schließlich einer zunehmenden Anzahl von Internet-Usern und großen Teilen der fernsehenden Gemeinschaft der Televisionäre so. Nur sind sie nicht visionär, sondern geben sich einer Illusion hin: der Illusion, IHRE Wirklichkeit zu leben. Doch die strömt ohne sie dahin.

Und jene Zeit, die wir nutzen sollten, um am Ende unserer Leben ins Meer zu gelangen, verstreicht, während wie am Ufer sitzen und winken.

In Wirklichkeit winken wir unserer eigenen Zukunft hinterher.

So leben manche immer in ihrer Vergangenheit. Deshalb ihre klammheimlichen oder offenkundigen Sehnsuchtsgefühle.

Sehn-Sucht sucht in Wahrheit nicht Vergangenes oder Zukünftiges, sondern die erfüllte Gegenwart.


Du steigt nicht zweimal in denselben Fluss, sagt der griechische Philosoph Heraklit.

In der Tat, das tut man nicht, nur eine Sekunde später fließen andere Wasser an uns vorbei.


Nur: unserer Zeit nachzutrauern hilft nicht weiter.


Wie kommt man in die Gegenwart des eigenen Flusses, des eigenen Zeitflusses, wo doch der Fluss schon weg ist?

In erster Linie muss man ins Wasser des Lebens hinein.


Das Leben, die Zeit fließt weiter, wenn unser Lebensfluss ohne uns fließt.

Das ist weder gut noch schlecht.

Es ist.

Und dieses "Es ist" ist im Grunde ein immerwährendes "Es war" – bis wir es ändern.

Das sollte uns auch nicht betrüben. Denn damit wir ins Meer gelangen, da, wo wir hingehören, wo unsere Ganzheit ist, brauchen wir viele Etappen, viele Leben.


Jeder hat seinen persönlichen Rhein, ist eine Donau, ein Amazonas, ein Mississippi.


Mancher schwimmt erst einmal aus dem Rhein weg seinen persönlichen Main hinauf und beschaut sich Frankfurt – warum nicht?

Ich finde das in Ordnung. Niemand sollte sich böse sein, ein Leben lang ein Frankfurt angeschaut zu haben bzw. getan zu haben, was dafür steht.

Ärgerlich nur, wenn man im Brackwasser hängen bleibt oder nicht durch eine Schleuse findet …

Das, finde ich, muss nicht sein. Das hat viel mit dem Thema des Lebenskampfes zu tun.


Ich selbst glaube nicht, dass es einen Zeit-Richter gibt. Einen Gott, der mit der Stoppuhr dasteht und sagt: Du bist ein Loser.

Es gibt keine Zeitvorschriften.


Es gibt nur dieses wunderbare Gefühl, in der Gegenwart der eigenen Zeit zu sein.

Es ist unverwechselbar.


Es gibt dieses Bewusstsein der Zeit, ein Bewusstsein der eigenen Lebenszeit.

Und wenn wir das erlangen, wird unsere Zeit zu unserer Gegenwart

Wir sind dann in unserer Zeit.

Im Grunde sind wir dann im Meer, auch mitten im Fluss!

Oder, wie es Marie-Luise Kaschnitz zum Ausdruck bringt: Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.


Wie gelangen wir zu diesem Bewusstsein, das jede Vergangenheit zu unserer ureigenen Gegenwart macht?

Nur, indem wir uns selbst annehmen. Das ist das Parzival-Thema.

Nur durch Liebe, durch Selbstliebe.


Allerdings sollten wir nicht den Fehler machen zu glauben, auf der Erde sei ständiges Schwimmen im Meer möglich oder auch, ständig im Haus aus Licht zu sein. Es steckt eine tiefe Weisheit dahinter, wenn Marie Luise Kaschnitz davon spricht, das wir manchmal zur Auferstehung aufstehen oder wenn Richard Dehmel seine Art der Auferstehung überschreibt mit "Manche Nacht".


Zur Selbstliebe gehört, auch den gegenteiligen Zustand in Liebe anzunehmen.

Auch dann sind wir im Fluss.

Keine Kommentare: