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Sonntag, 30. August 2009

Gotteswirklichkeit und Wertebewusstsein



Unter dem Thema Religionsfreiheit findet sich in dem Ethikheft eines renommierten Schulbuchverlags eine längere Passage des ebenso renommierten Philosophen Karl Jaspers, zitiert aus dessen Einführung in die Philosophie; sie beginnt:

Es zeigt sich immer wieder: Gott ist kein Gegenstand des Wissens, er ist nicht zwingend erschließbar. Gott ist auch kein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung. (...)

Die 22 Schülerinnen und Schüler vor mir nicken diese Worte einverständig ab.

Gott ist kein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung.

In dieser Aussage liegt die vielleicht größte Kreuzigung der Wahrheit mit entsprechenden Folgen für das Ende einer lebensvollen Religiosität und ein Grund für den Niedergang des christlichen Abendlandes.

Mit diesem Virus laufen diese Jugendlichen gegebenenfalls ein Leben lang durch ihr Leben ... und andere auch, denn es ist die Meinung zahlreicher Menschen, doch die Wahrheit ist:

Gerade Gott findet sich immer und immer wieder als
sinnliche Erfahrung.

Deshalb ist für viele Menschen Religiosität so leblos geworden, weil ohne diese sinnliche Erfahrung Gott eine Hülse und leblos bleibt und verborgen ist, wie wertvoll, hilfreich, weil wegweisend, ja im Grunde heilig unsere Sinne sind; so wird Gott verbannt in die Sinnenlosigkeit, in die Sinnlosigkeit.

Stehen wir nicht manchmal in der blühenden Natur und denken: Einfach himmlisch!

Und nehmen wir nicht über die Sinne wahr und sagen deshalb zu jemandem, der mit viel Liebe und toll kocht: Das schmeckt göttlich!

Genau das aber ist es und unsere Worte wissen es:

Wenn jemand etwas in Liebe tut: Das ist der Himmel auf Erden, da verwirklicht sich das Göttliche, verwirklicht sich die Liebe - wo sonst!

Und das tut sie in der Natur ständig, nur sind unsere Augen nicht immer geöffnet.

Heute dichtet niemand mehr aus vollem Herzen wie Paul Gerhardt in seinem früher oft auswendig gelernten Sommerlied Geh aus mein Herz und suche Freud (...)

Im weiteren Verlauf dieses Liedes sind alle Sinne einbezogen, hier findet sich Sinn, denn vor allem über die Sinne finden wir Sinn, nicht durch linkshirniges Denken.

Immer wieder gibt es Dichter, denen sich diese Wirklichkeit erschloss, Goethe z.B. in seinem berühmten Werther-Brief vom 10. Mai 1771 oder Max Frisch in seinem Credo für das zweite Gebot. Dort schreibt er:

Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren.

Man nennt das Synästhesie, wenn mehrere Sinne angesprochen werden, und tatsächlich finden wir, dass einem, der liebt, die Sinne in einem Maße angeschaltet sind, dass wir ihn bisweilen kaum wiedererkennen.

Über die Sinne erfahren wir die Liebe, die liebende Natur, die Wirklichkeit des Lebens. Zur Natur gehören auch Tod und Vergehen, aber auch dort, auch wenn jemand stirbt, mag das ein Prozess in Liebe sein, denn er wiederaufersteht hinter dem Vorhang, der für so viele eisern ist und den viele Tod nennen.


Vielleicht wäre der Verlust der Sinne und des Sinns nicht so gravierend, wenn es nicht solch gewaltige Auswirkungen auf unsere Erziehungswirklichkeit hätte.

Viele fordern mittlerweile eine bewusstere Werteerziehung, aber diese Forderung kommt nicht an bei denen, die es betrifft, bei den Kindern. Denn viele werden ohne Sinne erzogen bzw. mit fremden Sinnen, sinn-entfremdet

Manche sitzen mit drei oder vier Jahren schon vor dem Video und konsumieren Ware, die von Menschen produziert wurde, die selbst kein Verhältnis zu ihren Sinnen haben; und diese Ware findet Eingang in die Sinne der Kinder. Das ist das eigentlich Fatale an dem ganzen medialen Konsum, dass die Kinder vorgefertigte Ware übernehmen; dabei entwickeln sich aber nicht ihre ureigenen Sinne, sondern sie werden sofort sinnfremd gesteuert.

Kinder werden zudem viel zu früh heute in abstraktes Denken getrieben, das geschieht von Kultusministern und Bildungspolitikern, denen man auf Kilometer ansieht, dass sie ihren Verstand gebrauchen können, aber nicht ihre Sinne; ihre Gesichter sind Masken, ihre Körpersprache atmet kein Leben, keinen Sinn. In unserer Gesellschaft gilt doch vor allem, dass man nicht den Kopf verlieren darf; dass viele ihr Herz verloren haben, interessiert nicht.

Herz ohne Sinne aber, das ist nicht möglich. Nur offenen Herzens erschließen sich uns die Sinne und umgekehrt: Durch unsere Sinne finden wir Zugang zu unserem Herzen.

Man möge mir gestatten, dass ich etwas verallgemeinere, mir bleibt hier kein Platz, differenzierender die Dinge auszuleuchten; wer will, versteht, glaube ich, was ich sagen möchte.

Wenn in der Stadt, in der ich lebe, ein großer Wohnmarkt sonntags seine Pforten zur Wohnschau öffnet, dann ist er gerammelt voll; die halbe Stadt ist hier versammelt.

Die Natur ist immer offen, aber wie viele dieser Menschen gehen mit ihren Kindern in die Natur, die beste Schule für Kinder?

Das ist das Dilemma unserer Erziehung und dieses Dilemma nehmen die Seelen der Kinder genau wahr und reagieren entsprechend: Unsere Erziehung ist weitgehend sinnen-los und deshalb - seelisch gesehen - in einem erschütternden Ausmaß sinnlos.

Sinn kehrt mit den Sinnen ein.

Diesen Zusammenhang haben wir als Gesellschaft vergessen, verloren.

Wer mit Sinnen ein liebevoll hingezaubertes Essen isst, ist der nicht wie von selbst dankbar? Wie von selbst stellt sich diese Tugend ein. Und so ist es mit allen anderen Tugenden auch.

Wenn wir abends in den Sternenhimmel schauen, ergreift uns da nicht ein Staunen, eine Dankbarkeit, eine Wertschätzung für diese gewaltige Ordnung, die sich im Makrokosmos spiegelt! Und übrigens auch in uns, im Mikrokosmos! Welches Wunder ist z.B. der menschliche Körper!

Traurig und bezeichnend, dass viele jene Demut und Dankbarkeit und jenes Staunenkönnen nicht haben, das die größten Denker unserer Zeit auszeichnet, z.B. Albert Einstein:

(...) wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot. Das Wissen darum, dass das Unerforschliche wirklich existiert und dass es sich als höchste Wahrheit und strahlendste Schönheit offenbart, von denen wir nur eine dumpfe Ahnung haben können — dieses Wissen und diese Ahnung sind der Kern aller wahren Religiosität. (...)

Der Himmel, das Göttliche kann immer wieder in uns und inmitten von uns Menschen sein. Wenn wir mit allen oder auch einigen Sinnen leben, dann ist das Göttliche unter uns und in uns.

Jaspers Aussage, so sehr ich übrigens diesen Philosophen für einiges, was er geschrieben hat, schätze, ist schrecklich, doch es entspricht der Wirklichkeit unserer Gesellschaft.

Wir sind Gott los, weil wir sinnenlos sind; im Grunde wird damit alles sinnlos, wertlos, Werte los.

Das griechische Wort Metanoia übersetzt Luther mit Buße; es bedeutet eigentlich Sinn-Wendung.

Tun wir das doch:

Wenden wir unseren Sinn zu den Sinnen hin.

Dann wird unser Leben und das unserer Kinder sinnen-voll, werte-voll, sinnvoll, wertvoll.


PS Wer nachlesen mag:
Werther-Brief vom 10. Mai 1771
Max Frischs Credo Du sollst Dir kein Bildnis machen!
Paul Gerhardts Sommer-Herzens-Lied

PPS: Post zuerst veröffentlicht auf FreieWelt.net

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