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Sonntag, 25. Oktober 2009

Walzer der Liebe: Bertolt Brechts "Die Liebenden"


Seht jene Kraniche in großen Bogen! a
Die Wolken, welche ihnen beigegeben b
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen a
Aus einem Leben in ein andres Leben. b
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile c
Scheinen sie alle beide nur daneben. b
Dass so der Kranich mit der Wolke teile c
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen, d
Dass also keines länger hier verweile c
Und keines andres sehe als das Wiegen d
Des andern in dem Wind, den beide spüren e
Die jetzt im Fluge beieinander liegen. d
So mag der Wind sie in das Nichts entführen: e
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben f
So lange kann sie beide nichts berühren. e
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben f
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. g
So unter Sonn und Monds verschiednen Scheiben f
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. g
Wohin, ihr? – Nirgends hin. – Von wem davon? – Von allen. g


Ich habe an anderer Stelle einen Grund genannt, warum ich kein Freund Brechts bin; es gibt noch weitere. Das aber kann mich nicht daran hindern, dieses Gedicht als eines der schönsten Liebesgedichte zu empfinden, die es gibt. Es ist unnachahmlich gut gestaltet. Drei Gründe möchte ich nennen:
Das betrifft einmal seinen Walzertakt: Die Endreime reimen sich im Dreiertakt: aba bcb cbc dcd ede fef gfg gg.
Der Walzer ist der Tanz Liebender. Und wenn die Kraniche, wie es heißt, beieinander liegen, so drehen sie sich doch umeinander, wie es die Reime tun. Wie Glieder einer Kette sich nicht verlieren, so sind die Liebenden unzertrennlich und in die Reimform ist diese Unzertrennlichkeit und zugleich der Herztakt, der Dreierrhythmus des Walzers eingeflochten.
Selten, dass so gekonnt in die äußere Form der Sinn hineingewoben ist.

Dieses Gedicht ist im Jambus geschrieben, einer regelmäßigen Abfolge von unbetonten und betonten Silben: Die Wólken, wélche íhnen beígegében - unbetont, betont, unbetont betont ... Der Jambus gleitet dahin wie der Flug der Vögel.
Und doch gibt es in diesem Gedicht Stellen, in denen der Akzent nach vorn gezogen ist, eine Möglichkeit, die Germanisten Tonversetzung nennen. In deutschen Gedichten kommt dies nicht so häufig vor, hier aber vor allem gleich zu Beginn, denn es wird nicht das "jéne" betont, sondern das "Séht". Ist der Akzent um eine Silbe nach vorn gezogen, so folgen dafür zwei unbetonte; dann geht es normal weiter.
Gekonnter und intensiver kann man den Blick des Lesers gar nicht zum Himmel richten als mit Hilfe dieser Tonversetzung an der auffälligsten Stelle des Gedichtes, der ersten Silbe: Séht!
Seht hin!
Seht hin, Kraniche!
Vögel ohnehin, aber Kraniche ganz besonders, vor allem seit Schillers Die Kraniche des Ibykus, sind Götterboten. In Schillers Ballade nehmen sie die Bitte des sterbenden Sängers auf. Als sein Auge bricht, bittet er die Kraniche, die gerade über ihn hinfliegen, seinen Tod zu rächen und die Mörder zu überführen. Und dies geschieht auf wunderbare Weise.
Kraniche sind auch Vögel des Glücks, vor der Paarung tanzt der Kranich.
Gemeinsam sind sie unverletzlich.
Am Ende seines zauberhaften Märchens vom Zauberspiegel heißt es bei Michael Ende: Wenn zwei zusammen in den Zauberspiegel schauen, werden sie wieder unsterblich.
Unsterblich waren und sind die Liebenden; richtig übersetzt weist uns auch der Beginn des Alten Testamentes darauf hin, warum zwei unzertrennlich zusammengehören.
Der Atheist Brecht, der dennoch die Bibel so schätzte, weiß in seinem Gedicht auch davon zu erzählen:

Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren.

Dieses Gedicht gibt es in verschiedenen Fassungen, und eine ist jene in Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony. In Mahagony organisiert die Schwindlerin Begbick käufliche Liebe. Und inmitten dieses käuflichen Geschehens singt Jenny mit Paul dieses Lied im Wechselgesang; ein aus dem Gewerbe der Liebe erwachtes Mädchen zeigt einem von seinem Gefühl überraschten Mann die Kraniche ... Symbol ungeteilter Liebe, in der sich die beiden vereinen:

Jenny: Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
Paul: Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Jenny: Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Paul: Aus einem Leben in ein andres Leben.
(...)

Das Gedicht ist wohl vor der Oper entstanden. In der dort vorliegenden Fassung ist der Schluss anders gestaltet als oben und er zerstört den wunderbaren Mythos der Liebe, deshalb wollen wir ihn hier nicht einbringen. Heinz Politzer, ein 1978 verstorbener Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, der an der University of California in Berkeley lehrte, hat es so formuliert: 
"Der Dichter war nicht nur ein auf seine Art Frühvollendeter, sondern auch ein früh Zerstörter (...) So zersetzte er mit List und Tücke die Schönheit."

Wir lassen sie bestehen, die vorliegende Fassung des Gedichtes - wie sie sich auch in der bekanntesten deuschen Gedichtsammlung von Echtermeyer/Wiese findet - , wir lassen also diese Fassung des Gedichtes und damit der Liebe bestehen, denn es gibt sie wirklich, die Schönheit, die Liebe, den Walzer des Herzens. 
Und wir wünschen uns, dass sie nicht davonfliegen, die Liebenden, sondern dass sie unter uns bleiben, denn unsere Erde braucht sie.
Dringend.



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