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Montag, 1. Januar 2024

Eine wertvolle Übung für das neue Jahr:

Man sollte sich zum Grundsatz machen: niemals einem fremden Vorschlag etwas entgegenzusetzen, wenn man nicht vorher vollkommene Einsicht in die Motive des anderen Vorschlages gesucht hat. Man sollte sich immer vor Augen halten, daß man doch egoistisch ist, wenn man eine Meinung deshalb liebt, weil man sie selbst hat.
Diejenigen, welche eine höhere geistige Entwickelung erlangt haben, sie haben sie durch ein Opfer in dieser Richtung erkauft. Sie haben sich auferlegt, ganz in den Meinungen ihrer Mitmenschen aufzugehen, bis in die innersten Fasern ihrer Seele sich selbst auszulöschen, um in den anderen unterzugehen. Ein wahrer Mystiker kann nur werden, wer gelernt hat, bis in die geheimsten Gedanken hinein selbstlos zu werden. Durch weniges entwickelt man sich auf den ersten Stufen der geistigen Leiter mehr, als dadurch, daß man sich eine Zeitlang Schweigen in seinem tiefsten Innern auferlegt. Viel gewinne ich dadurch, daß ich Monate, vielleicht Jahre hindurch mir einmal gesagt sein lasse: Jetzt will ich, ganz bescheiden, gar nichts selbst meinen, sondern selbstlos einmal fremde Meinungen in meinem Innern leben lassen. Ich will ganz untertauchen in fremden Empfindungen, Gefühlen, Gedanken. Dadurch erweitere ich selbstlos mein Selbst, während ich es selbstsüchtig verengere, wenn ich fort und fort nur meine eigenen Meinungen aus dem Wesen meines Selbst als Wellen an die Oberfläche meines Lebens spielen lasse. (Rudolf Steiner, GA 34, S. 454)

Unbewusst oder halbbewusst mag der ein oder andere die Sorge in sich tragen, sich selbst zu verlieren, wenn er sich bemüht, in den Anderen aufzugehen.
Diese Sorge ist überflüssig, weil der Weg dazu, wirklich vollständig in einem Anderen aufzugehen, eh sehr, sehr lang ist und wir über eine lange Übungszeit mit mehr als einem Zipfel in uns bleiben. Aber selbst wenn wir lernen, mehr oder weniger vollständig im Anderen aufzugehen, haben wir jederzeit die Möglichkeit, zu unserem Ich zurückzukehren und uns auf diese Weise selbst zu sein. Darin besteht ja die Kunst des Lebens: den eigenen Selbstwert zu schätzen und deshalb das Selbst immer weiterzuentwickeln und gleichzeitig die Fähigkeit zu fördern, das selbst des Anderen wahrzunehmen.
Beides bedingt ja einander.

Ich kann mein eigenes Selbst nur erweitern mit Hilfe der anderen Selbst auf der Welt.
Noch gibt es zu viele Menschen, die, ohne es zu merken, immer nur das eigene Selbst im Anderen entdecken, weil sie ihr eigenes Verstehen in dem Anderen sehen und nicht den Nächsten in seiner Eigenheit.
Steiners Aussage kann uns auch vermitteln, wie sehr soziale Medien eine riesengroße spirituelle Falle sind, denn man kann es bei fast jedem Beitrag beobachten, wie wenig Menschen auf den Anderen eingehen, wie sehr sie ihre Meinung in den Vordergrund stellen.
Sie mögen es tun, weil sie den Anderen von ihrem besseren Standpunkt überzeugen wollen; aber selbst wenn er das spirituell objektiv wäre, so tun sie weder dem Anderen noch sich einen Gefallen.
Was wirkt, ist das seelische Verstehen, das Vermitteln des Gefühls für den Anderen, angenommen zu sein.

Gott schüttelt nicht pausenlos den Kopf über uns. Er redet nicht auf uns ein und gibt Hinweise und Rat-Schläge. Er sieht, so glaube ich, mit Geduld auf uns und wartet, bis wir auf dem Hintergrund aller unserer Erfahrungen die richtigen Türen öffnen. Die Schlüssel für diese Türen sind unsere Erfahrungen.

Die Erfahrung des Angenommenseins durch einen Anderen ist sicherlich eine der wertvollsten, die wir erleben dürfen. Dann kann Liebe strömen.

Immer wieder mag es geschehen, dass wir intuitiv aus großer Tiefe heraus einen Anderen verstehen und ihm mit Worten helfen können. Es ist ja nicht so, dass alles, was wir tun bzw. reden oder schreiben, falsch wäre. - Es gibt in unserem Leben diese Momente der Selbstlosigkeit.

Es geht darum, für wahre Selbstlosigkeit achtsam zu werden und sie immer bewusster in unserem Leben verwirklichen zu können.

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