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Mittwoch, 10. April 2024

Über das Zuspätkommen

(…) man sollte nicht das, was man schon vorher als seine subjektiven Gewohnheiten hatte, immer wieder und wieder auch in das, was zur geisteswissenschaftlichen Weltanschauung gehört, hineintragen, sondern sich etwas leiten lassen durch die Bedingungen der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung. Zum Beispiel kann ein Mensch im gewöhnlichen Leben die Gewohnheit haben, überall zu spät zu kommen, nicht rechtzeitig zu erscheinen zu der Stunde, die angesetzt ist. Im äußeren philiströsen Leben wird die Gewohnheit, zu spät zu kommen, nicht gerade immer angenehm, vielleicht auch nicht vorteilhaft sein für den Fortgang desjenigen, was man zu tun hat; in der geisteswissenschaftlichen Bewegung aber sollte aus der ganzen Art, wie man die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten selber nimmt, es der Seele unmöglich sein, so etwas zu pflegen, wenn es nicht einer dringenden Notwendigkeit entspricht.

Nun ist in diesen Tagen so viel über Ernst und Würde nicht bloß des geisteswissenschaftlichen Wesens, sondern auch unseres gesellschaftlichen Lebens gesprochen worden, und man hat gesehen, wie notwendig es ist, daß wir uns als Gesellschaft abschließen. Selbstverständlich ist es ein Äußerliches, daß man doch wenigstens die kleine Sorgfalt haben sollte, zur rechten Zeit zu kommen; trotzdem sind auch in den jetzigen Tagen, obwohl der Vortrag 20 Minuten nach Sechs begonnen hat, wiederum einzelne zu spät gekommen. Und auf diese Weise, meine lieben Freunde, werden wir niemals dahin kommen, den Begriff der Gesellschaft so weit zu verwirklichen, daß wir, mit einem Wort, vernünftig anfangen können. Denn wenn wir nicht wissen können, daß, wenn wir anfangen, niemand mehr von uns kommt, dann können wir uns bei einigermaßen ausgebreiteteren Verhältnissen der Gesellschaft niemals davor schützen, daß nicht Unbefugte da oder dort einmal wieder unter uns sein werden, die nicht hereingehören. Bedenken Sie doch, daß es eine Rücksichtslosigkeit ist, in einer Gesellschaft zu spät zu kommen, wenn diese Gesellschaft auf der anderen Seite darauf schaut, daß wirklich jeder, der eintritt, dazugehört. Dazu müssen aber gewisse Mitglieder sich opfern und den Eintritt der Mitglieder so lange überwachen, bis alle, die zur Gesellschaft gehören, da sind. Wenn nun die Überwachenden eingetreten sind, dann muß die Türe geschlossen sein, und jeder sollte da sein.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, es sollte gewiß nicht notwendig sein, solche Dinge besonders zu besprechen; aber die geisteswissenschaftliche Weltanschauung muß auf dem Begriff der Symptomatik stehen. «Symptomatik» bedeutet hier das, daß, was irgendein Wesen im Kleinen praktiziert, es sehr geneigt sein wird, auch im Großen zu praktizieren. Wer es nicht einmal dazu bringt, pünktlich zu den Versammlungen zu kommen, der wird auch bei größeren Dingen, wo es auf etwas Bedeutsames ankommt, nicht gerade denjenigen ganz pflichtgemäßen Impuls entwickeln, der notwen(dig ist. Ein großer Teil der Schäden, die in so krasser Weise zutage getreten sind, hängt innig zusammen gerade mit dem Nicht-genau-Nehmen, mit dem Nicht-deutlich-genug-Nehmen der Dinge. Es ist wirklich wichtig, daß wir in demselben Stil, wie das eben besprochen wurde, auch den geisteswissenschaftlichen Betrieb, wenn ich so sagen darf, selber nehmen. Daher ist es auch eine Veranschaulichung desjenigen, was die Geisteswissenschaft von uns fordert, wenn wir uns solche Dinge des allerallergewöhnlichsten Lebens im Zusammensein einer geisteswissenschaftlichen Gesellschaft vor Augen führen. (Rudolf Steiner, GA253, S. 109f)



Wer nicht im Geringsten treu ist, der ist auch nicht im Großen treu. (Die Bibel)

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