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Sonntag, 1. Januar 2023

2023: ein sorgenfreies Jahr? Wenn ja, warum? - Von Goethe lernen!

In der Gestalt des Faust hat Goethe uns einen Menschen vor Augen geführt, der sich vor diesen unseren Augen, wenn wir denn sehen wollen, entwickelt, Bewusstseinsschritt für Bewusstseinsschritt.

Im ersten Teil dieses großen Werkes lässt sich Faust auf Mephistopheles ein, nachdem er schon kurz davor war, am Leben zu verzweifeln und nur mit Hilfe eines österlichen Wunders am Leben bleibt. Allerdings bleiben die, mit denen er zu tun hatte, weitgehend nicht am Leben, am allerwenigsten Gretchen, das er schwängert, um die junge Dame dann schmählich sitzen zu lassen, verwechselt er doch, wie das Männer gerne tun, Begierde mit Liebe. Deshalb müssen nicht nur Margarete sterben, sondern deren Kind, Mutter und Bruder. Mephistopheles dagegen reibt sich vergnügt die Hände. Doch am Ende von Teil I erlebt der "Der Herr der Ratten und der Mäuse, / Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse" - wie er sich selbst nennt - sein Waterloo: Er sieht Margarete, die ihr Kind aus purer Verzweiflung nicht austragen konnte und sich so in Schuld am Wertvollsten, was wir Menschen haben, dem Leben, verstrickt, gerichtet und verkündet im Kerker Gretchens lauthals: "Sie ist gerichtet!"
Da ertönt jene gewaltige Stimme aus dem - wie Atheisten (die es in Wirklichkeit gar nicht gibt) es gerne nennen - Off, und korrigiert ihn entscheidend mit den Worten: "(Sie) ist gerettet!".

Im Deutschen, dieser wunderbar differenzierten Sprache, kennen wir ein Vorgangspassiv (im Präsens: sie wird gerettet) und ein Zustandspassiv. Es macht einen himmelweiten Unterschied zu ersterem, denn hier ist etwas in einen Zustand übergegangen, das wertvoller nicht sein kann, weil Gott nicht die Sünde kennt, wie sie uns über Jahrhunderte von der Kirche in Herz und Hirn gebrannt wurde, da es für jenen trotz allem Geschehenen so ist - wie es unter den letzten Worten des Faust I heißt: Sie ist gerettet.

Auch Faust ist gerettet, man mag es kaum glauben; der Beginn des zweiten Teils macht es deutlich:
Trotz großer Schuld - immerhin "zieren" die vier erwähnten Toten seinen Weg - ist er durch heilsamen Schlaf in der Lage, weitere entscheidende Schritte auf jenes große Ziel hinzugehen, das das Männliche in uns nur zum Ziel haben kann: das Ur-Weibliche - Goethe nennt es das "Ewig-Weibliche".
Ganz will es ihm in diesem Werk noch nicht gelingen. Aber Faust hat zu Helena, in der Goethe das Ewig-Weibliche sich personifizieren lässt - zum Abschluss nennt er, um was es ihm geht, in einer Wendung zum Christlichen hin "Mater Gloriosa" - entscheidenden Kontakt aufgenommen und mit ihr sogar ein gemeinsames Kind gezeugt, Euphorion.
Doch ist es ein Trugschluss, dem sich zumeist allerdings nur diverse scheinheilige Esoteriker hingeben, zu glauben, man könne auf Erden leben, ohne noch immer einen Erdenrest in sich zu haben:
Helena und Euphorion entschwinden wieder; Faust bleibt ein Mensch, wenn auch ein seelisch-geistig sehr weit entwickelter, hat er doch den Schritt zu den drei Müttern zu gehen vermocht, ein Schritt, den zu gehen in den Mythen nur wenigen vergönnt war, u.a. Odysseus, Orpheus, Herakles - und, wie manche zur Kenntnis zu nehmen bereit sind: Christus.
Auf der Erde jedoch kann man ein Ewig-Weibliches nicht auf Dauer an sich binden. Immer wieder - bei entsprechendem Streben - aber in (zunehmend intensiveren) Kontakt treten.

Dass Faust noch zumindest ein letzter Schritt fehlt, machen nicht nur das Entschwinden Helenas und Euphorions im dritten Akt des zweiten Teiles deutlich, sondern auch in Akt 5, schon ganz gegen Ende des Werkes, das Auftauchen der vier grauen Weiber - dem Mangel, der Not, der Schuld und der Sorge. Zumindest eine der Vieren verbleibt in Fausts Haus: es ist die Sorge. Mit ihr muss er sich auf ein Wortgefecht einlassen, und es wird deutlich, für wie schwierig Goethe die Überwindung der Sorge hält ("Wen ich einmal mir besitze, / Dem ist alle Welt nichts nütze").

Das etymologische Wörterbuch des Deutschen kennt zwei Bedeutungsvarianten von "Sorge (wer mag, kann sich hier informieren: https://bit.ly/3G75eUS) und Faust scheitert noch an jener, die dort mit "Kummer" bzw. "Gram" bezeichnet wird. Faust grämt sich nämlich furchtbar darüber, dass an jener Stelle, wo er eine wunderbare Aussicht über sein Meisterstück, sein Lebenswerk haben könnte, auf seinem Grund unter den Linden droben also, die Hütte der beiden Alten, von Philemon und Baucis steht.
Goethe hat ja die Hütte zu einem der zauberhaftesten Motive der Weltliteratur gemacht (Faust in Teil I, in ihrem Zimmer hingerissen an Gretchen denkend: "Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich.") Indem er nun Mephistopheles befiehlt - jener hat ja beste Erfahrungen im Ausführen von solchen Befehlen Fausts, hat er doch auf dessen Wunsch hin der Mutter Gretchens, um ein Tête-à-Tête mit der Geliebten zu ermöglichen, einen Schlaftrunk verpasst, aus dem allerdings jene nicht mehr aufwachen sollte - indem Faust also Mephistopheles befiehlt, die beiden Alten zur Seite zu schaffen, erledigt jener das mit Hilfe dreier Schergen in gewohnt radikal zuverlässiger Weise, indem deren Zuhause abbrennt, was die beiden Alten vor Schreck sterben lässt. Zwar sucht Faust, seinen Kopf aus der Schlinge der Verantwortung zu ziehen ("Tausch wollt´ ich, wollte keinen Raub"), doch kennen wir ja diesen Euphemismus von Worten zur Genüge aus unserer politischen Landschaft: Was Faust "Raub" nennt, war im Grunde eine durchaus willkommene Tötung, weil es ihm nun möglich ist, "Zu überschauen mit einem Blick / Des Menschenwerkes Meisterstück", was also er geleistet hat. Doch Lynkeus, der Türmer auf Faustens Schlosswarte, bringt es auf den Punkt, wenn er davon spricht, dass "die innere Hütte loder(t)". Mit dem Abfackeln der Hütte der beiden Alten lodert vor allem die innere Hütte in Fausts Seele, dort also, wo eine geistige Heimat ihren Ort hätte finden können, ja sollen,

Für mich ist, bevor ich zum Schluss dieses Beitrages und seinem besonderen Sinn für das Jahr 2023 komme, ein Hinweis wichtig, damit nicht jene, die mit dem Christentum aufgrund seiner Kriminalgeschichte auf Kriegsfuß stehen (vgl. Karlheinz Deschners "Kriminalgeschichte des Christentums"), nämlich, dass das wahre Christsein und Christentum für mich eine Bewusstseinsstufe, keine Religion im üblichen Sinne ist, eine Bewusstseinsstufe, die sich gerade im Deutschen in der Tatsache niederschlägt, dass die erste Person des Personalpronomens in dieser unserer Sprache ausgerechnet jene Initialen enthält, die für mich eine wegweisende Bedeutung beinhalten: Iesus Christus: I-CH.

Goethe beschließt seinen "Faust" ja im Grunde mit einem Verweis, den zwei Bibelzitate spiegeln. Das eine findet sich in einem Brief des Petrus und lautet: „Alle eure Sorgen werfet auf ihn, denn er sorgt für euch.“
Und Paulus schreibt in seinem Brief an die Philipper: „Macht euch keine Sorgen! Ihr dürft in jeder Lage zu Gott beten. Sagt ihm, was euch fehlt, und dankt ihm! / Dann wird Gottes Friede, der all unser Verstehen übersteigt, eure Herzen und Gedanken bewahren, weil ihr mit Jesus Christus verbunden seid.“

Sind wir in der Lage, alle Sorgen aufzugeben, und ist das überhaupt sinnvoll?
Wenn ein geliebter Mensch längst da sein sollte und einfach nicht kommt oder wenn der eigene Zug Verspätung hat, wo doch ohnehin für den Anschlusszug kaum Zeit zum Umsteigen bleibt - ist das nicht übermenschlich, sich keine Sorgen zu machen?

Goethe deutet an, dass es möglich sein könnte im Rahmen seiner Religiosität, die sich u.a. auch in seinen Geheimnissenund seinem Märchen von der grünen Schlange zeigt.
Aber es kann nicht sinnvoll sein, sich unnötig unter Druck zu setzen und so zu tun, als gäbe es Angst und Sorge einfach nicht. Man muss nicht mit Gewalt einen Erdenrest negieren wollen.

Wichtiger ist, was Goethe für mich mit dem "Faust" vermitteln will: Es gibt einen Weg zum Ewig-Weiblichen, zu den Urgründen unseres Seins, den wir nur verstehen, wenn wir erkennen, dass alles Vergängliche ein Gleichnis ist und die Aufgabe von uns Menschen, in dem, was wir auf der Erde erfahren, Verweise auf ein Ewiges zu erkennen, um uns jenem wieder anzunähern, um sozusagen ins Reich der grünen Schlange zu gelangen.
In den Mythen steht das Weibliche für die Seele des Menschen, das Männliche für den göttlichen Geist. Er ist es, der die Seele befruchten will. Wir finden dies in der Tatsache, dass Osiris mit Isis Horus zeugt, wir finden das angesprochen in der so oft verkannten Jungfrauengeburt der Maria, die nicht anders ist als eine sehr reine Seele; wir finden es angesprochen in der Zeugung des Euphorion so wie Heinrich von Ofterdingen das Ewig-Weibliche in jenem Gesicht findet, das ihm die Blaue Blume zeigt.

Für uns ist dieses Ewig-Weibliche so wichtig, weil wir in einer Zeit leben, in der - so stellt es sich jedenfalls für mich dar - es gilt, das kaputte Männliche, das derzeit die Welt regiert (Namen zu nennen, die sich da besonders anbieten, ist wohl kaum notwendig) abzulösen und das Männliche zu heilen durch eine bewusste Weiblichkeit als einer bestimmten Qualität der Seele der Menschen.
Diese Weiblichkeit ist kosmischer Natur; sie kann hören und muss nicht ununterbrochen geredet oder geschrieben haben; dass sich Medien in so starkem Maße etabliert haben wie Twitter, Facebook, Whats App, Telegram und andere und so viele Worte produziert werden, die so oft geistiger Müll sind und den Wert des wahren Wortes, des Logos, hintertreiben, ist kein Zufall. Weiblichkeit gibt zudem Wärme, die unsere Seelen dringend braucht, wie es auf wunderbare Weise die Pietà Michelangelos und die Sixtinische Madonna Raffaels zeigen ...

Ich glaube, dass es möglich ist, diesen Weg zum Ewig-Weiblichen zu beschreiten und dass das bereits in der letzten Zeit geschieht, denn die Menschheit ist mehr denn je an einem Punkt angelangt, an dem viele erkennen, dass sich Entscheidendes ändern muss und ich vermute, dass vor allem die jüngeren Generationen und auch die Frauen dieser Erde in Afghanistan, im Iran und anderswo nicht mehr lange hinnehmen werden, was die alten Männer dieser Erde treiben, auch die jungen Männer, wenn sie so alt sind wie die älteren Brüder der Grimm-Märchen.
Übersehen sollte man nicht, dass für die männliche Seite einer Frau Vergleichbares gilt; auch deren männliche Seite kann sehr krank sein.

Es liegt an uns, die seelisch-geistigen Bewegungen zum Ewig-Weiblichen hin, die sich auszeichnen durch eine Wertschätzung allen Lebens, zu unterstützen und bewusst selbst zu gehen, und ich vermute, wenn Goethe heute wieder da wäre, würde er nach wie vor zu dem, was er im Faust geschrieben hat stehen, er würde vor allem aber eines verändern, er würde sagen: Lasst Euch nicht nur ziehen vom Ewig-Weiblichen! Geht vielmehr bewussten Schrittes auf es zu!

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