Seiten

Freitag, 21. Juli 2023

Die Macht der Sorge. - Von drei zentralen Lebenshemmnissen.

Einmal mehr ist es Goethe, der gegen Ende seines leider viel zu wenig beachteten „Faust II“ darauf verweist, woran selbst Menschen, die doch immerhin schon die Kraft hatten (wenn sie auch nicht ganz erfolgreich waren), in die Tiefen unseres Bewusstseins, in das Reich der Mütter, wie es Goethe nennt, hinabzusteigen und  mit diesem Gang in die Tiefen menschlichen Seins immerhin auf den Spuren eines Odysseus, Herakles oder Orpheus wandeln, noch scheitern.

Faust erhält gegen Ende seines Lebens Besuch von vier Damen, der Schuld, dem Mangel, der Not und der Sorge. Doch nur die Sorge kann in sein Inneres gelangen:

FAUST:
Die Pforte knarrt, und niemand kommt herein.
Ist jemand hier?

SORGE:
Die Frage fordert Ja!

FAUST:
Und du, wer bist denn du?

SORGE:
Bin einmal da.

FAUST:
Entferne dich!

SORGE:
Ich bin am rechten Ort.

FAUST:
Nimm dich in acht und sprich kein Zauberwort.

SORGE:
Würde mich kein Ohr vernehmen,
Müßt' es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
üb' ich grimmige Gewalt.
Auf den Pfaden, auf der Welle,
Ewig ängstlicher Geselle,
Stets gefunden, nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht.--
Hast du die Sorge nie gekannt?

FAUST:
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed' Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genügte, ließ ich fahren,
Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und abermals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh' er seinen Gang,
Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick!

SORGE:
Wen ich einmal besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle;
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schieb er's zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.

Faust, dem nach Ende seines Erdenlebens von der Geistigen Welt durch die Anwesenheit hoher Wesen, die seine Seele nach oben tragen, bestätigt wird, wie wertvoll er ist, obwohl er doch kurz zuvor noch am Tode von Philemon und Baucis, dem so sympathischen Pärchen beteiligt war, indem er einmal mehr auf die Mithilfe des Mephistopheles hereinfiel, vermittelt uns - und das ist doch gerade für unsere Corona-Ukraine-Inflations- und politikverdrossene Zeit so wichtig, wie gut es wäre, wenn wir nicht auf die Sorge abfahren.

Tatsächlich gibt es drei große Hemmnisse für unsere seelische Entwicklung, die auch Faust durchlebt hat, die aber leider auf unserer Erde von uns Menschen ausgiebig praktiziert werden:

Anlässlich des zum Tode verurteilten Gretchens und dem Tod des gemeinsamen Kindes schiebt er die Schuld natürlich auf andere - in seinem Fall auf Mephisto.
Er tut sich selbst Leid (Faust wollte vor allem sein Leid, das darin bestand, das Leid eines anderen Menschen ertragen zu müssen,  beseitigen, indem er Gretchen rettet) und
er kann sich der Sorge auch kurz vor seinem Tod nicht verschließen.

Die Schuld immer bei anderen zu suchen und Selbstmitleid sind tödlich für jede seelische Entwicklung.
Wer den „Faust“ ernst nimmt, verjagt zudem die Sorge aus seinem Leben. Sie ist einer der letzten, wenn nicht der letzte Hemmschuh vor einer möglichen Erlösung unserer Seele, für eine Verbindung mit unserem Ewig-Weiblichen, dem Ewigen unserer Seele.
Wer das Christliche um des Christlichen und Biblisches um der Bibel willen ablehnt oder verachtet, mag darüber hinweglesen, dennoch lautet ein mehrfach im Neuen Testament in unterschiedlicher Gestaltung angesprochener Hinweis:“Sorget nicht für den anderen Morgen.“
Für unseren Alltag, unser Leben verweist uns das darauf, dass wir unsere Energien, unsere gedanklichen Energien, die sich in so vielen Lamentationen über den Zustand der Erde äußern, nicht in entsprechende Artikel und Beiträge hineinpulvern sollen. Sich gegenseitig über Gefahren und Bedrohungen zu informieren, ist das eine; das andere ist, dass man zugleich mitvermitteln mag:
Sorge ist ein Mittel geistiger Kräfte, wie sie sich in der Gestalt des Mephisto finden, die Seele von sich selbst abzulenken, abzuschneiden. Mephisto sorgt(!) dafür, dass Gretchens Mutter und Bruder so früh sterben; er ist am Tod von Philemon und Baucis beteiligt und bemüht sich rührend um unsere Sorgen. Nur tut er es sich selbst zuliebe.
Angst spielt dieselbe Rolle!
Im "Faust" kann Mephistopheles nicht verhindern, wie sehr am Ende das Göttlich-Weibliche in der Gestalt des Doctor Marianus und der Mater gloriosa in den Mittelpunkt rückt und dass es heißt:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Bleibt noch anzumerken, dass Goethe womöglich heute seinen Schluss anders formuliert hätte und nicht nur davon gesprochen hätte, dass das Ewig-Weibliche uns hinanzieht, sondern dass auch wir aktiv auf unser Ewig-Weibliches zugehen mögen.
Wir tun es auch dadurch, dass wir dazu beitragen, in unserer Erdenwirklichkeit die Sorge zu entsorgen.

Keine Kommentare: