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Sonntag, 5. November 2023

Herzensbildung: ihre Entstehung, ihre Erscheinungsformen, ihr unendliches Potential (Teil I)

Gewiss wäre es schön, wenn hier viele zusammentragen, was sie unter Herzensbildung verstehen. Mit meiner Ansicht über sie kann ich hier natürlich nur einige Aspekte wiedergeben, die zudem sehr subjektiv sind und meinen Erfahrungen entstammen - das bitte ich zu berücksichtigen.

Heinrich, der Wagen bricht!

In einem Kommentar unter diesen Beitrag auf Facebook habe ich darauf hingewiesen, dass das Erlangen von Herzensbildung mit innerem Kampf und Leid verbunden ist. Das hängt damit zusammen, dass vor allem Leid die Verkrustungen und Verengungen unseres Herzens zu sprengen vermag, worüber auf geniale Weise das Grimm-Märchen „Der Froschkönig“ Auskunft gibt - übrigens eine wahre Medizin für Herzen auf dem Weg zu ihrer Bildung (Link und Auszug s. Schluss). Beeindruckend, dass dem Kutscher des Königssohnes das Leid seines Herrn so nahe geht, er so mitfühlt, dass es ihm zum eigenen Leid wird. Wenn es am Ende des Märchens gehen darf, wird es sein Herz weiter sein lassen als zuvor. Mitleiden, mitfühlen weitet unser Herz und diese Weite kennt keine Grenzen.
Gewiss kann Leid - wir sehen das gerade bei älteren Menschen - auch zu zunehmender Verhärtung führen, aber die meisten werden Beispiele aus ihrem persönlichen Bereich kennen, die ihnen vermitteln konnten, wie sehr Leid in einem positiven Sinne Menschen zu verändern vermag und auf sie selbst zuführen kann, zum inneren Kern ihres eigenen Wesens.
Nie bewegt sich in den normalen, alltäglichen Phasen unseres Lebens unser Herz so sehr wie in jenen, in denen es sich zwangsläufig bewegen muss, weil es sich mit Leidvollem auseinanderzusetzen hat. Das gilt auch für Erfahrungen von Leid, mit dem wir in unserem unmittelbaren Umfeld konfrontiert werden. Wer beispielsweise mit der Suchtabhängigkeit eines nahen Verwandten oder Bekannten konfrontiert worden ist, weiß, wovon ich spreche. Solche Erfahrungen führen zu einer existenziellen Eigenschaft, ohne die wahre Herzensbildung nicht möglich ist:
Der Mensch hört zunehmend auf zu werten.
Leid führt zu der Erkenntnis, dass es in Bezug auf menschliche Seelen keinen Unterschied macht und vor dem Leid, dessen man in der Seele eines anderen ansichtig wird - auch eines Menschen, den man nicht näher kennt -, jedes Richten und Urteilen schweigt.

wie wir vergeben unsern Schuldigern

Ein Mensch auf dem Weg der Herzensbildung wird sich auch der Tatsache bewusst, dass jemand, der sich seelisch grausam verhält und mitleidlos, vielleicht aber dennoch gar momentan reich ist und glücklich erscheint, dem Leid nicht entgehen kann. Manche Seele mag angesichts der verbrecherischen Taten von Gewaltherrschern und Despoten, wie sie auf der Erde sich zu jeder Zeit in Hülle und Fülle zeigen – auch im Moment -, schweigen, weil sie sieht, welches unendliche Leid womöglich über viele Leben Despoten und Gewaltherrschern bevorsteht. Gewiss hilft das deren Opfern wenig, wobei wir in karmische Zusammenhänge, in die fast jedes Opfer involviert ist, zumeist nicht hineinsehen. Was mich – auch wenn es hier nicht zum Thema gehört, sei es dennoch gesagt – tröstet in dieser Zeit, ist meine Erkenntnis, dass sich solche karmischen Zusammenhänge – und dies betrifft ja auch uns selbst – recht schnell auflösen können, weil Zeit momentan zunehmend beschleunigt und die Bitte des >Vater unser< – „vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“ – stärker und stärker Realität werden kann, weil mehr und mehr Menschen auf Vergeltung verzichten und immer wieder oder gar täglich um die Vergebung der Schuld anderer bitten - gerade auch jener, unter der sie selbst zu leiden hatten - , oft im Rahmen ihres bewusst täglich gebeteten >Vater Unser<.

 „Ba-Ba-Banküberfall, das Böse ist immer und überall“ (Erste Allgemeine Verunsicherung)

Erfahrungen, die wir machen, führen uns zu der Erkenntnis dass es ohnehin so viele Geschehnisse gibt, die wir nicht kennen, dass sie sich einer Beurteilung von unserer Seite entziehen; wir können im Bereich des Bösen und des Guten nicht alles kennen, was sich zuträgt. Diese Erkenntnis, dieses Bewusstsein hat zur Folge, dass wir ein Urteilen und Richten über andere beenden; wir überlassen es einer höheren Macht.
Vielen wird zudem bewusst, dass, wenn sie früher über Böses und Böse ein Urteil fällten, sie zumeist über ihre eigene Vergangenheit ein Urteil sprachen. Einblicke in frühere Leben können uns mit der Tatsache konfrontieren, dass wir unter Umständen sehr spirituell unterwegs waren, beispielsweise als Medizinmann, als weise Hexe oder im Bereich der Kirche, aber dass wir auch richtig große Schurken waren. Gerade letzter Tatbestand führt ja in unserem Leben dazu, dass wir sehr oft die Tiefe des Bösen in den Seelen der anderen wahrnehmen, bisweilen auch, ohne dass sie sich real gezeigt hat, weil wir sie bestens kennen.

 ein jeder sieht, was er am Herzen trägt

Goethes Worte zu Beginn des > Faust I < - „ein jeder sieht, was er am Herzen trägt“ - verweist darauf, wie sehr Menschen ihre unterschiedlichen Erfahrungen gewichten und welchem Herzensbereich sie die Oberhand zugestehen. Es ist ja nicht so, dass Menschen, die immer nur die ganze Zeit über Negatives auf der Welt sprechen, früher nur negative Erfahrungen gemacht hätten. Aber das Negative zieht eben mehr nach unten, hat ein schwereres Gewicht und das erfordert weniger Aufwand, um es zu aktualisieren, ist es doch zu unseren Füßen. Erfahrungen aus seelisch geistig wertvolleren und höheren Bereichen verlangen die Überwindung der Schwerkraft, die ja nicht nur eine Schwerkraft im Äußeren ist, sondern auch eine Schwerkraft der Seele. Ein Zeichen dafür, dass ein Mensch sich seelisch entscheidend verändert, ist, dass er Situationen und Worte vermeidet oder in seinem Umfeld unterbindet, die Negatives verstärken. Zunehmend verspürt er jene schwere Kraft, die die Seele nach unten drückt. Das lässt beispielsweise den ein oder anderen manches Fernsehprogramm, das er gerade einschaltet, gleich wieder ausmachen.

Wer sich davon befreit, nimmt wahr, dass das Herz freier schlagen kann und dass es beginnt, sich ausdehnen zu wollen. Es kann durchaus sein, dass Herzschmerzen einem Menschen signalisieren wollen, dass das Herz sich ausdehnen will und dass es nur ein bewusstes JA für diesen Prozess benötigt.

Wer sich innerlich bilden möchte und Geschehen, das bisher in seinem Kopf beheimatet war, deshalb aus dem Kopf ins Herz verlagert, der bedarf natürlich eines zunehmend weiteren Herzens - und keine Sorge: ein sich ausweitendes Herz kennt keine Grenzen.

 eine Etappe auf dem Weg der Herzensbildung: Karfreitag
Wenn ich oben von Kampf gesprochen habe, dann deshalb, weil die Überwindung von eigenen Schwächen, Süchten und Gewohnheiten die Bereitschaft erfordert, für deren Überwindung zu kämpfen. Oft ist es so, dass der Mensch eine lange Zeit kämpfen muss, bis in ihm die Bereitschaft und die Erkenntnis wächst, dass die Lösung darin liegt, aus dem Kampf herauszugehen. Lange Zeit allerdings hat Parzival darum gekämpft, die Gralsburg wiederzufinden. Es war dann an einem Karfreitag, dass er aus diesem Kampf herausgehen konnte, weil er einem Menschen - im „Parzival“ Wolfram von Eschenbachs heißt er Trevrizent - treffen durfte, der ihm vermittelte, dass er all sein Leid unter jenes Kreuz legen darf, das er selbst trägt und erfolgreich tragen darf, weil es für ihn zuvorderst ein Anderer trug.

Herzensbildung kommt zu irgendeinem Zeitpunkt nicht ohne dieses Karfreitagserlebnis aus und niemand möge es in einem Topf werfen mit dem, was sich auf unserer Erde als christliche Religion ausgibt. Das Karfreitagsgeschehen ist überreligiös, es ist ein Bewusstsein, das sich in uns bildet, und es bildet sich in einem muslimischen oder hinduistischen Herzen genauso wie in dem eines sogenannten Atheisten oder bisher normativen Christen.

Mit dem Kampf und dem Aus-dem-Kampf-gehen-Dürfen verhält es sich übrigens so wie mit der Wohnungssuche: Seltenst ist es der Fall, dass eine neue Wohnung einem einfach so zufällt. Meistens ist es doch so, dass man viel Zeit und Energie investieren muss, um die richtige zu finden. Es gehört zu meiner Erfahrung, dass ich den Eindruck hatte, es ist dieses Sich-Bemühen notwendig, damit die richtige auf mich zukommt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Parzival-Kampf: Wer glaubt, im Sessel sitzen zu können und einfach auf den Karfreitag zu warten, der mag ihn kalendarisch erreichen, nicht aber seelisch.

Ich beende hier diesen Teil, wiewohl ich weit weniger als ich eigentlich wollte, ansprechen konnte; ich melde mich wieder -)

Worauf ich oben hinwies, war jenes wunderbare Märchen vom Froschkönig ( https://bit.ly/46Vjo7y ), in dem zu guter Letzt sich jene Stelle findet, um die alle wissen, die auf dem Weg der Herzensbildung sind, denn sie kennen, was geschieht, wenn das Herz sich ausdehnen möchte - nach all den Erlebnissen tut es dort auf einmal laute Schläge und es findet sich der Wortwechsel zwischen dem Ex-Frosch und Königssohn sowie seinem Kutscher:

Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn, daß es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief:

"Heinrich, der Wagen bricht!“
"Nein, Herr, der Wagen nicht,
Es ist ein Band von meinem Herzen,
Das da lag in großen Schmerzen,
Als Ihr in dem Brunnen saßt,
Als Ihr eine Fretsche (Frosch) wast (wart).“

Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war. 

Mögen viele Bande vieler Menschen in dieser unserer Zeit zerreißen!

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