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Dienstag, 5. Februar 2008

Unsere Urteile, unsere Richtsprüche betreffen immer uns, unsere Schatten


"Das es so wenige genis giebt,
daran haben wohl die Schulanstalten
und selbst die Regierung schuld.
In der Schule herrscht ein Zwang, Mechanißmus
und ein Gängelwagen der Regeln.
Das benimmt den Menschen oft alle kühnheit selbst zu denken
und verdierbt die genies."


verantwortlich für Rechtschreibung und Inhalt : Emanuel Kant (1724-1804)



Kann man in der Schule im Rahmen jenes Gängelwagens von Regeln überhaupt praktizieren, was ein Nobelpreisträger fast wie selbstverständlich sagen kann:

"Wer (...) sich nicht mehr wundern,
nicht mehr staunen kann,
der ist sozusagen tot
und sein Auge erloschen."


Sorry, Albert, ´sich wundern´ steht nicht im Lehrplan, ´staunen´ auch nicht.
Was sind das auch überhaupt für Schlussfolgerungen?!
Setzen, Einstein. Note 6!

Halt! Stopp!

Der Stau, in dem wir stehen, sind auch immer WIR.
Die Schule, in die wir gingen und gehen - das sind auch WIR.
Die Politiker, über die wir lästern, die Manager, die wir brandmarken: Sie spiegeln uns und unsere Gesellschaft.
Unsere Gesellschaft, das sind WIR.
Lasst uns aufhören, über andere zu schimpfen und anderen Schuld zuzuweisen, sondern lernen, was wir ablehnen, als unsere dunklen Seiten anzusehen, ja anzunehmen.
Solange wir z.B. Rechtsradikale und kriminelle Jugendliche ausgrenzen,
solange wir sie als Geschwüre ansehen, sind sie ein Krebs im Körper der Gesellschaft.
Sie sind auch der Krebs in uns.

Wir werden so lange über das Wetter schimpfen, bis wir erkennen, dass WIR es sind, die es machen.

Unverhofft kann uns stattdessen das, was wir liebend annehmen, eine größte Hilfe werden.
Märchen wussten dies schon immer. Weisheit in ihren Worten lautet:

Ein Bauernbursche, der von einer schönen Prinzessin geträumt hat, zieht mit seinem kleinen Erbe aus, um die Schöne zu suchen. Unterwegs trifft er an einer Kirchentür auf einen Toten, der in einem Eisklotz eingefroren ist und den jeder Vorübergehende anspuckt. Er erfährt, es sei ein Weinhändler gewesen, der den Wein mit Wasser gepanscht hatte. Nun verweigere ihm der Pfarrer das christliche Be­gräbnis. Der Bursche empfindet Mitleid mit dem Sünder und stiftet seine ganze Habe für dessen Begräbnis. Als er weiter­wandert, gesellt sich ein Unbekannter zu ihm als „Reise­kamerad" und bietet ihm an, die schöne Prinzessin zu er­obern, die von einem Troll verzaubert ist. Nach vielen Kämpfen und Mühsalen, die der Kamerad alle stellvertre­tend für den Helden leistet, wird die Prinzessin gewonnen. Nach einem Jahr offenbart der Kamerad, dass er der tote Weinhändler sei, der ihm so seinen Dank abstattete, aber jetzt müsse er für alle Zeiten scheiden, denn nun riefen ihn die Himmelsglocken.
aus Religion und Tiefenpsychologie, Diesterweg, 1989


Der Schweizer Psychologe C.G. Jung nannte diesen Weinhändler, der von vielen so schnöde behandelt wird, unseren Schatten.
Im Außen treffen wir immer wieder auf jemanden, den wir verachten oder aburteilen, ohne zu wissen, dass wir in Wirklichkeit einem Teil unseres Inneren begegnen. Je harscher die Urteile über andere sind, die wir fällen, je verständnisloser wir ihnen begegnen, je intensiver wir auch andere suchen, die uns bestätigen, wie doof jener oder jene sei, desto sicherer können wir sein, dass wir einem unserer Schatten begegnet sind.

Selbst sehen wir den eigenen Schatten oft nicht, unsere Mitmenschen aber sehen ihn umso besser.
"Was regst du dich nur über deine Kollegin so auf", fragt die Frau ihre Freundin.
"Sag bloß, du findest natürlich, wie diese Ziege sich gibt, wie sie Männer anmacht, sich affektiert verhält!"
"Lass sie doch, das machen doch viele."
"Ich lass´ sie ja, aber sie nervt mich trotzdem mit ihrem dümmlichen Gehabe ... " -

Den Schatten wird man so schnell nicht los ...

Wir verstehen nun auch, warum es in afrikanischen Kulturen verpönt ist, auf den Schatten eines Menschen zu treten. - Man tritt nicht auf einen Menschen, denn: Auch sein Schatten gehört zu ihm.

Der Weinhändler im Märchen, das ist, wenn wir ihn bespucken und sein Tun gnadenlos verachten, ein Teil von uns, unser Schatten, den wir nicht annehmen wollen. - Wer hat noch nie gemauschelt oder mauschelt nicht?

Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein ... In diesem Satz der Bibel nimmt Jesus Bezug auf unsere Schatten.

In den realen Schattengestalten im Außen, u.a. also Menschen, mit denen wir Schwierigkeiten haben, spiegeln sich Seelenanteile unseres Inneren, die aufgetaut werden wollen, transformiert, erlöst.

Solange dies nicht geschieht, sind wir der Prinz, der Dornröschen, sein eigenes Höheres Selbst, erlösen will. Doch bleibt der Prinz, bleiben wir in der Dornenhecke hängen. Viele Prinzen verenden dort, nachzulesen im Dornröschen der Gebrüder Grimm.

Die Dornen, das sind unsere stechenden Urteile, unsere richtenden Sprüche.
Was wir über andere sagen, betrifft immer auch uns!

Für mich liegt deshalb eine der größten Weisheiten der Bibel in der Aussage:

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.

Wir richten uns immer selbst! Es ist immer unser jüngstes Gericht.
Indem wir den Weinhändler einfrieren, erfrieren zunehmend wir selbst.
Mit ihrem Urteil über die Bibel verstellen sich im Übrigen viele den Zugang zu diesen Wahrheiten ...

... solange, bis jener Prinz kommt, jenes Bewusstsein, das der Mythos Parzival nennt.
Er kann den todkranken Gralskönig Anfortas erlösen; doch das ist eine andere Geschichte.

Nur: Anfortas - das sind wir. Unser krankes Bewusstsein.
Unser Gängelwagen.

Richtig verstanden - also ohne ständiges Urteilen, Werten, Lamentieren - kann Letzterer uns dennoch zum Blütenmeer führen. Das ist die Botschaft der Märchen:
Wer wirklich sucht, der findet,
denn
als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große, schöne Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zusammen.


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