Dass dieses Wissen heute kein Allgemeingut ist, hängt mit dem Herodeskräften zusammen, wie sie die Bibel nennt; die ägyptische Mythologie spricht von der Zerstückelung des Osiris. Osiris wurde verführt durch Typhon. Wir können ihn auch den Herodes Ägyptens nennen. Der Tod des Osiris und seine Zerstückelung, sein Tod symbolisiert die Zerrissenheit des modernen Menschen, der den Typhon-Herodes-Kräften erliegt. Immer noch sucht Isis, die Mutter, ihren Sohn Osiris. Es ist die Suche des Ewig-Weiblichen, von dem Goethe am Ende des Faust II spricht, die so gern unserem Suchen begegnen möchte. Die Liebe dieser Großen Mutter will den Menschen heilen.
Die Symbolik der Mutter hat zu allen Zeiten eine große Rolle gespielt, wir finden sie in der Gestalt der Isis, der Diana, der Sophia, Marias ...
Sie steht im Gegensatz zur Negativ-Macht der Mütter, mit denen sich Faust im Faust II konfrontiert sieht, die ihre Kinder nicht freigeben, im Grunde sie verschlingen. Um ein Haar wäre auch Siegfried diesem Drachen zum Opfer gefallen. Um ein Haar hätte dieser Drachen ihn erdrückt, so wie viele Mütter ihre Kinder erdrücken. Das ist leider eine Realität. Sie findet sich im Bild des Mutterdrachen, ein Thema, von dem bekanntlich das Grimm-Märchen Eisenhans handelt.
Nun finden wir im Abitur 2010 im Rahmen des Gedichtvergleichs zwei Gedichte, deren Thematik in die Richtung einer Liebe geht, wie sie die wahre Mutter symbolisiert. Auf das Gedicht von Volker Braun, Hingebung, möchte ich bei Gelegenheit noch eingehen; ich werde es dann hier verlinken. Dieses Gedicht thematisiert Selbstfindung durch Hingabe, Selbsterfüllung durch Liebe. Ein gewaltiges Thema, vielleicht DAS Thema unseres Lebens.
Das andere Gedicht, Rilkes Die Liebende steigt in die Urgründe unseres Seins, und ich muss sagen, dass die Damen und Herren, die beide Gedichte auswählten, viel Vertrauen in die Kenntnisse ihrer Kollegen hatten, diese Urgründe vermittelt zu haben, damit Schüler in ihrem Abitur darauf Bezug nehmen können.
Sie dokumentierten mit ihrer Wahl zugleich ihre Auffassung von Literatur als Spiegel der menschlichen Seele, die nur zu begreifen ist, wenn wir sie im Sinne C.G. Jungs sehen. Rilke zumindest kann man nur verstehen, wenn man diesen Dichter als zutiefst religiös begreift. Wie hoffnungsvoll hingegeben von meinen Kollegen zu glauben, dieses Wissen und diese Sicht auf die Liebe und das Leben bei den unterrichtenden Kollegen und den Schülerinnen und Schülern voraussetzen zu können; auch die Elternhäuser müssen ja zu dieser Sicht beigetragen haben.
Unter den über 40 Abitur-Arbeiten, die ich dieses Jahr korrigieren "durfte", waren leider nur drei, die den Gedichtvergleich nahmen, aber immerhin eine Schülerin - der Schrift nach war es eine Sie - hat bei der Liebe, wie sie sich im Rilke-Gedicht findet, gesprochen von der Liebe zwischen Seelenpartnern, ein Gedanke, der sich natürlich im Erwartungshorizont des Oberschulamtes nicht findet.
Nun ja, ehrlich gesagt bin ich auch weit davon entfernt zu glauben, dass die Dortigen Literatur so verstehen wie ich und wie ich es oben mir selbst glauben machen wollte. Und ich glaube auch nicht, dass unsere Schulbildung ein Verständnis erreichen will und ein Bewusstsein, dass die Seele von Natur aus religiös sei.
In unserer Bildung geht es mittlerweile vor allem um Präsentation, Portfolio und Mindmap ... Word ist wichtiger als das Wort und Wahrheit zählt vor allem dann, wenn sie als Tabelle kalkuliert werden kann ...
Herodes-Typhon hat alles im Griff. Und beide können beruhigt sein: noch bleibt Osiris zerstückelt.
Dessen ungeachtet erlaube ich mir meinem Unterricht an einer Maxime, an einem Leitgedanken auszurichten, der sich in diesem Worten erfassen und zusammenfassen lässt:
anima naturaliter religiosa.
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