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Samstag, 15. April 2023

"Es war ein König in Thule": Warum Gretchen diesen König für eine beispielhafte Liebe wählt und man in Deutschland sich dem zweiten Teil des Faust endlich zuwenden sollte ...

Für mich ist das Thule-Lied eines der schönsten Liebeslieder und in Goethes Tragödie singt es Gretchen, sich zum Schlafengehen ausziehend, und erfindet es damit zugleich.
Gerade hat sie einen Mann kennengelernt, Faust, der zwar gut und gern an die zwanzig Jahre älter als sie sein mag, aber offensichtlich sagt ihr Herz ja zu ihm.
Sonst könnte sie nicht diese Töne und Worte finden:
Es war ein König in Thule
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldnen Becher gab.
Es ging ihm nichts darüber,
Er leert ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
Sooft er trank daraus.
Und als er kam zu sterben,
Zählt er seine Städt im Reich,
Gönnt alles seinem Erben,
Den Becher nicht zugleich.
Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem Schloß am Meer.
Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut
Und warf den heiligen Becher
Hinunter in die Flut.
Warum wählt sich Margarete in ihrem Lied einen König - und dann nicht gerade den jüngsten?
Er ist nicht verheiratet, sondern liebt eine Geliebte, die ihn offensichtlich auch liebt und für ihre Liebe ein Symbol findet, einen goldenen Becher.
Für ihren königlichen Geliebten bedeutet er alles; die Liebe zu seiner verstorbenen Liebe ist dem König wichtiger als alles Gut und Geld.
Gretchen wählt ihn, weil dieser Mann eine Reife besitzt, die der Liebe fähig ist.
Bevor er stirbt, übergibt er den Becher dem Meer, der Ewigkeit. Für ihn ist ihrer beider Liebe nicht zu Ende, sondern sie setzt sich fort in Ewigkeit.
Solch eine Liebe wünscht sich Gretchen.
Was sie nicht weiß, ist, dass in ihrer Liebe zu Faust Mephistopheles mitmischt, der Faust mittels eines Hexengebräus präpariert hat, damit er, wie es bei Goethe heißt, Helena in jedem Weibe sähe.
Doch mit Helena hat es eine besondere Bewandtnis, denn wie wir aus den griechischen Mysterien wissen, war Helena gar nicht in Troja, sondern Paris fiel auf ein Bild, ein Eidolon herein, wie es dort heißt.
Männer glauben meist, sie führen Helena nach Hause, in Wirklichkeit aber existiert diese nur in ihrer Phantasie, ein (Abzieht)Bild, wie es in Soldatenspinden, Männerphantasien und diversen Illustrierten zu finden ist, eine seelenlose Realität, die mit wahrer Schönheit nichts zu tun hat.
Was dann folgt, ist, was man oft als Ehe bezeichnet ...
Was es mit der wahren Helena auf sich hat, erzählt Goethes „Faust“ in dessen zweitem Teil und es wird Zeit, dass Menschen des deutschen Kulturbereichs sich ihm widmen, damit Männer nicht mehr ´lieben´ mit ´begehren´ verwechseln und auch Frauen sich um das Ewig-Weibliche kümmern. Schon ein Bemühen darum kann uns der wahren Liebe näher- und nahebringen. Das Lied deutet an, dass die Liebenden dort darum wussten und der erste Teil des „Faust“ deutet ebenfalls an, dass auch Gretchen diese Liebe anstrebte. Leben konnte sie diese Liebe nicht. Im Gegenteil endet dieser Teil der Tragödie mit vier tödlichen Opfern, ihrer Mutter, ihrem Bruder, ihrem Kind (das nie wirklich ein Kind von Faust war) und auch sie wird gerichtet.
Das muss nicht (mehr) sein.
Auch deshalb ist der zweite Teil des „Faust“ empfehlenswert.

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