Seiten

Mittwoch, 4. Oktober 2023

Warum die Madonna die Seele so vieler Menschen berührte und berührt.

Jahrelang hing das Bild der Sixtinischen Madonna von Raffael in meinem Wohnzimmer, ohne dass mir bewusst war, welch tiefe spirituelle Bedeutung ihm zukommt. Für mich spiegelte sich in Maria und den diversen Madonnen der Versuch der katholischen Kirche, dem Weiblichen eine gewisse Bedeutung zu geben und doch zugleich für den religös-kirchlichen Alltag alles Weibliche aus dem seelsorgerlichen und institutionellen Bereich fernzuhalten. Der war Männern vorbehalten. Nicht von ungefähr entspricht die eigentlich katholische Sportart dem Mixed im Tennis: im Grunde für diverse Männer ein Herreneinzel mit Damenbehinderung. – Es ist auch nicht abzusehen, dass im 21. Jahrhundert sich daran grundlegend etwas ändert.

Gerade auf diesem Hintergrund war ein Aspekt im Werk Rudolf Steiners einer, der mich zutiefst berührt hat, als ich von ihm zum ersten Mal las, weil er mir einen ganz neuen Blick auf die Gestalt der Madonna eröffnet hat.
Es gehört ja zur spirituellen Aufgabe eines jeden Menschen, seine Seele zu reinigen von allen möglichen Süchten, Leidenschaften und Begierden. Das bedeutet nicht, dass alles Sinnliche, was uns in der Natur und im täglichen menschlichen Leben begegnet, minderwertig sei. Aber gerade im zwischenmenschlichen Bereich und auch in der Sexualität gibt es eine Sinnlichkeit, in der Liebe eine immer größere Bedeutung gewinnt und es zwar nach wie vor ein Begehren gibt, das aber nicht die Sinne überbordet. Im Rahmen solch einer Liebe mag sogar die körperliche Liebe eine seelisch-geistige Zuneigung zwischen zwei Menschen in Tiefen hinein verwirklichen, die erkennen lässt, warum die Körperlichkeit von uns Menschen eine himmlische Gabe ist, von Gott geschaffen. 

Leider nehmen wir momentan auf unserer Erde bei vielen eine eher gegenteilige Entwicklung war: „Liebe“ darf gar nicht tierisch genug sein.

Luther hat bedauerlicherweise die letzte der neun Früchte des Geistes, wie sie Paulus im Galater-Brief benennt -  dazu gehören Freude, Frieden, Geduld, Sanftmut -, übersetzt mit „Keuschheit“. Das hat im religiösen Bereich zu einem völlig falschen Zungenschlag hinsichtlich der Bedeutung von Sexualität geführt.
Im Griechischen findet sich das Wort „enkrateia“. Wie Luther dazu kam, dieses Wort mit „ Keuschheit“ zu übersetzen, mag er allein wissen. „enkrateia“ bedeutet, abgeleitet vom griechischen "krátos" = Macht, > in der Macht sein <; seiner selbst mächtig; frei von fremden Mächten, gerade auch seelisch niederen.

Diese Übersetzung wirft ein bezeichnendes Licht auf das, worum es in unserer spirituellen Entwicklung geht: um eine ihrer selbst bewusste Freiheit, zunehmend überlegen gierigem Verhalten, Sucht und Leidenschaft. Solch ein Mensch gebiert in sich und aus sich heraus den höheren Menschen, den wahrhaft geistigen Menschen, dessen Inneres zunehmend mehr von jenem Geist erfüllt ist, den Jesus „heilig“ nannte und heute noch so nennt.

Über einen Menschen, der sich solchermaßen entwickelt hat, schreibt Steiner in seinem Vortrag „Isis und Madonna“ (GA 57):
Versuchen wir, die Seele, welche den höheren Menschen aus sich, aus dem geistigen Universum, herausgebiert, zu verbildlichen, so brauchen wir uns nur vorzustellen das Bild der Sixtinischen Madonna, das wunderbare Kind in den Armen der Madonna.
Im Grunde ist es kaum möglich, im Bereich der Sinne ein Bild für das Innere eines Menschen, wie wir ihn eben in seiner Entwicklung angesprochen haben, zu gestalten. Wenn es jemandem gelungen ist - darauf verweist Steiner -, dann Raffael und ergänzend mag man hier ebenfalls Michelangelos Pietà nennen und gewiss zu Recht auch die ein oder andere künstlerische Madonnengestaltung.

Für mich war der Gedanke, in der Madonna dies zu sehen, ehrlich gesagt, umwerfend. Mit einem Mal wurde mir klar, warum über Jahrhunderte hinweg so viele Menschen sich der Madonna zuwandten, gerade auch einfache Seelen, die ihren Zugang zur Wahrheit intellektuell noch nicht so verstellt hatten: im Grunde wandten sie sich in der Madonna ihrem eigenen zukünftigen Inneren zu. 
Natürlich wird bei jedem Einzelnen schlussendlich eine individuelle Gestaltung dieses Inneren vorhanden sein. Doch diesem großen Künstler mag es gelungen sein, eine Art Urbild dieses höheren Menschen und seiner Seele in der Gestalt seiner Sixtinischen Madonna geschaffen zu haben, gewiss eine himmlische Gnadengabe und dem eine große Hilfe, der sie demütig anzunehmen weiß.
Dann kann in der Seele eine Frucht entstehen, welche die ägyptische Mythe von Isis und Osiris Horus nannte und die, von zu vielen Menschen noch nicht verstanden, Christus heißt.


Keine Kommentare: